Abschalten

Ich habe auf diesen Blog schonmal über meinen Kopf geschrieben. Damals ging es um Kopfschmerzen und Migräne und wie ich versuche damit umzugehen. Als ich das neulich mal wieder erlebt habe, wurde mir eine neue Ebene bewusst, die ich gerne teilen möchte.

Ich habe gerade das größte Konzert meines Lebens erlebt. Eine unglaubliche Performance, die ich wohl bis an mein Lebensende nicht vergessen werde. Ein Typ begeistert mit Gitarre, seiner Stimme und einer Loop Station die Massen. Jeder zweite Song ein absoluter Hit! Für ihn selbst, die größte Show, die er in seinem bisherigen Leben gespielt hat. Rund 100.000 Menschen sind da. Ein unglaubliches Spektakel. Alles scheint perfekt. Links der Bühne geht die Sonne unter, rechts zeigt sich ein Regenbogen. Und ich mittendrin in der Menge.

Branchenkenner wissen, von wem ich spreche. Kleiner Tipp: er hat rote Haare und ist Brite.

Doch über sechs Stunden stehen ohne etwas zu Trinken, hinterlassen Spuren an meinem Körper. Während den Vorbands ist noch alles im Rahmen. Wenigstens scheint die Sonne nicht durchgehend, dann ist das schwüle Wetter einigermaßen erträglich. Als der Rotschopf, wegen dem knapp so viele Menschen heute Abend hierher gekommen sind, endlich auftritt, kann ich mich schon kaum mehr konzentrieren. Der Kopfschmerz hat sich wieder breit gemacht. Selber Schuld. Nur weil ich zu geizig war, nochmal 5,50 Euro für einen halben Liter Flüssigkeit auszugeben. Die zweistündige Show wird zu einem Kampf zwischen dem Versuch das Konzert zu Genießen und dem Verlangen, mich möglichst bald in meinem Bett entspannen zu können. Ich hätte es mir anders gewünscht, anders vorgestellt, doch es ist zu spät.

Die Zugabe ist geschafft. Zum Glück war die Setlist vorher bekannt. So konnte ich erahnen, wie lange ich noch durchhalten musste. Dank Adrenalin, habe ich den Kopfschmerz zwischendurch vergessen. Es ist schon beeindruckend, was der Körper alles aushalten kann, wenn es drauf ankommt. Nun steht noch der Heimweg bevor. Das das ingesamt noch über zwei Stunden dauern würde, war nicht abzusehen. Vielleicht besser so. Erstmal dauert es ewig, bis wir endlich in Trippelschritten das Gelände verlassen haben. Dann noch eine Stunde Fahrrad fahren. Sie werden zur Qual – ein Kampf von Körper und Geist. Doch die kühle Luft tut gut.

Während dieser ganzen Zeit steht mein Kopf keine Sekunde still. Neben dem Schmerz rasen die Gedanken. Wann ist es endlich vorbei? Hoffentlich dauert der Weg zum Fahrrad nicht zu lange. Wann kann ich endlich wieder etwas trinken? Ich hoffe, dass meine Kraft für die Heimfahrt reicht. Warum habe ich mir das nur angetan? Lohnt sich das überhaupt? Außerdem sind viel zu viele Menschen hier. Man kann sich kaum bewegen.

Ich halte meinen Kopf für eine meiner größten Stärken. Nicht weil ich besonders schlau bin. Im Gegenteil: ich habe keine allzu große Aufmerksamkeitsspanne und besitze eine eher durchschnittliche Merk-Kapazität. Doch ich kann ziemlich gut vorausdenken, Dinge wahrnehmen und im Blick haben, sie abschätzen und darauf reagieren. Das ist wie ein eingebauter Automatismus, der sich schwer oder gar nicht abschalten lässt. Ein Gedankenkarussell.
Was muss ich für morgen noch alles vorbereiten? Wenn ich heute nicht mehr einkaufen gehe, habe ich morgen nichts zum Frühstück. Die Gliederung für das Referat muss ich bis 24 Uhr abschicken. Zur Post wollte ich auch noch. Meine Steuererklärung kann auch nicht mehr länger warten, der Stichtag rückt immer näher. Außerdem sollte ich mir noch Gedanken über die Gestaltung der Probe heute Abend machen.

Doch das betrifft nicht nur mich. Wenn ich unter Leuten bin, denke ich ständig, wie von selbst irgendwelche Sachen mit. War das jetzt fair wie sich Typ X gegenüber Typ Y verhalten hat? Jemand sollte noch beim Abspülen helfen. Typ A hilft nie mit, vielleicht sollte ich ihm das mal sagen. Die Stimmung ist aufgeheizt: was kann ich tun, um zu deeskalieren? Jemand sollte sich um Typ B kümmern, er steht so alleine da.

All diesen Gedankenkarussellen liegt mein Drang zugrunde, mein Leben im Griff haben zu wollen. Ich mag das! Es fühlt sich gut, den Plan zu haben, zu wissen was man tut und aktiv darauf einzuwirken. An sich finde ich es auch nicht schlimm, an die Zukunft zu denken und sich Gedanken zu machen, was morgen kommt. Das hilft mir, mich auf vor mir liegende Situationen einzustellen und nimmt nie eine solche Überhand, dass ich abends nicht einschlafen kann. Stattdessen fällt es mir schwieriger, den Moment zu Genießen. Weil ich einerseits immer daran denken muss, was danach folgt und zu erledigen ist. Und andererseits die Situation, in der ich mich gerade befinde, permanent reflektiere.

Den Moment genießen – kann ich das überhaupt noch?

25 Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer tägliches Leben – darum, ob ihr genug zu essen, zu trinken und anzuziehen habt. Besteht das Leben nicht aus mehr als nur aus Essen und Kleidung?
26 Schaut die Vögel an. Sie müssen weder säen noch ernten noch Vorräte ansammeln, denn euer himmlischer Vater sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel wichtiger als sie.
27 Können all eure Sorgen euer Leben auch nur um einen einzigen Augenblick verlängern? Nein.

Matthäus 6, 25-27

Kommentar verfassen