50! Heute ist es soweit. Jeden Tag haben wir gezählt, wie schon all die Jahre zuvor. 50 Tage sind vergangen seit dem Passah-Fest, an dem wir uns erinnern, wie Gott uns damals aus Ägypten und der Sklaverei befreite. Doch dieses Jahr wurde das Passah von allerlei seltsamen Begebenheiten überschattet. Tumulte und Aufruhr gab es. Ein Schwindler, der sich als unser Messias und König ausgab, war hier nach Jerusalem gekommen und riss eine riesige Menge von Menschen in seinen Sog. Er war mir als Rabbi bekannt. Er hatte viele kluge Dinge gesagt in den letzten Jahren und konnte sich mit den Gebildetsten messen. Letztendlich hatte er sich überschätzt und war zu weit gegangen. Noch vor dem Sabbat war er als Gotteslästerer hingerichtet worden. Doch dabei blieb es nicht. Rund um das Passah war viel Sonderbares geschehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mitten am Tag schon mal so dunkel war. Gruselig war das. Aber noch mehr war geschehen. Darüber sollte ich eigentlich nicht sprechen. Es wird sehr diskret damit umgegangen. Ich arbeite im Tempel und bekomme allerlei mit. An eben diesem Tag, als es dunkel wurde und der Gotteslästerer hingerichtet wurde, riss der dicke Vorhang in unserem Heiligtum. Noch nie war das passiert, viel zu dick ist der und außerdem gut bewacht. Entweder muss hier ein riesen Komplott geschmiedet worden sein, oder Gott selbst hat das getan.
Seit 50 Tagen grüble ich darüber nach. Ach ja, 50 Tage. Da war ich stehen geblieben. 50 Tage nach dem Passah feiern wir das Wochenfest und erinnern uns daran, wie Gott uns seine Weisungen am Berg Sinai gab und danken für den ersten Weizen, den wir ernten. Die ganze Nacht hindurch habe ich in der Synagoge die Thora, unsere heilige Schrift, studiert. So machen wir es jedes Jahr und nennen es „Nachtwache“. Aber die Begebenheiten vom letzten Passah gehen mir immer noch nach. Dieser Rabbi, Jesus, hatte mich eigentlich auch sehr überzeugt. Beinahe hätte ich selbst geglaubt, er sei der Messias. Er hatte so viele Wunder getan, die sonst niemand tun konnte. Er hätte es sein können. Einige seiner Anhänger sind immer noch in der Stadt. Es geht sogar das Gerücht um, er sei auferstanden. Wahrscheinlich verbreiten seine Anhänger das, um zu verarbeiten, dass sein Grab geplündert und seine Leiche gestohlen wurde. So sagen es zumindest die Anführer unseres Volkes. Viel zu viel Sonderbares und Merkwürdiges umgibt diese Ereignisse. Ich kann nicht leugnen, dass auch ich etwas zweifle. Irgendetwas Überirdisches scheint im Gang gewesen zu sein. Fragt sich nur, ob Gutes oder Böses.
Während ich hier so stehe und grüble, schrecke ich auf. Was ist das? Irgendein Geräusch, so ein Brausen und Rütteln, als wäre es plötzlich sehr windig. Oder wieder ein Aufruhr? Ich eile nach draußen, um zu sehen, was los ist. Alle Nachbarn sind auch schon draußen. Es herrscht viel Aufregung und Gewirre. Das Rauschen scheint vom Ende der Straße zu kommen. Ich lasse mich von der Menge ziehen und mitreißen. Alle wollen sehen, was da los ist. Auch aus den anderen Gassen strömen Menschen dazu. Während wir dem Brausen entgegen gehen, als würde es uns anziehen, wird es langsam leiser. Ich bin in einer der vorderen Reihen und höre es noch lange genug, um zu bemerken, dass es aus dem Haus da vorne zu kommen scheint. Als wir das Haus erreichen, ist es abgeklungen und ich höre nur noch das aufgeregte Getuschel um mich herum. Was war das? Da! Da kommen Leute aus dem Haus! Die muss es voll getroffen haben, aber Moment. Die sind nicht erschrocken oder verängstigt. Die sind euphorisch! Was ist hier denn los? Einer von ihnen hebt die Hände und will wohl etwas sagen. Vielleicht bringt das jetzt etwas Licht ins Dunkel.
Er beginnt zu reden, aber warte mal… das ist nicht Aramäisch. Das ist die Sprache meiner Heimat! Ich komme eigentlich aus Libyen und bin mit meiner Familie hierher ausgewandert. Aber der Mann redet in meiner Muttersprache und offensichtlich spricht er über Gott. Er sieht überhaupt nicht so aus, als käme er aus Libyen. Außerdem würde ich ihn kennen. Ich kenne eigentlich alle Libyer hier, denn wir haben unsere eigene Synagoge. Ich schaue mich um. Alle scheinen so perplex zu sein wie ich, aber alle hören zu. Und das kann gar nicht sein, eigentlich sollte ihn kaum jemand verstehen können.
„Hey, warum redest du ägyptisch?“, ruft jemand ein paar Meter neben mir. „Du bist doch Galiläer, ich kenn dich doch!“ Was? Ägyptisch? „Nein, er redet arabisch, ich erkenne noch meine Muttersprache!“, grätscht eine Frau dazwischen. „Quatsch, das ist doch Griechisch, seid ihr blöd?“, ruft jemand von hinten. Offensichtlich scheinen hier alle etwas anderes zu hören. Und wohl alle in ihrer Muttersprache. Das ist verrückt! Alle fangen an wild durch einander zu reden. „Der da vorne ist doch besoffen. Das ist doch Unsinn hier!“, ruft jemand und viele lachen. Da hab ich meine Zweifel, er spricht ja deutlich, auch, wenn seine Euphorie etwas erzeugt scheint.
„Aber, aber meine lieben Brüder und Schwestern…“, beginnt der Mann vorne, der die vielen Sprachen spricht und hebt beschwichtigend die Hände. Was er jetzt sagt, trifft mich mitten ins Herz, wie ein Schlag! Was hier gerade passiert ist, scheint die Erfüllung einer Prophezeiung des Propheten Joels zu sein. Naklar! Die Ausgießung des Geistes am Ende der Zeiten! Deshalb dieses Brausen! Warum haben wir das nicht eher verstanden. Aber dann… dann müsste der Messias ja schon gekommen sein. Was sagt er dazu? O nein, jetzt redet er von diesem gekreuzigten Rabbi Jesus. Offensichtlich ist er einer seiner verbliebenen Anhänger. Aber was er sagt… was er sagt, ergibt Sinn! Vergangene Nacht, als ich in der Synagoge war, habe ich genau diesen Psalm gelesen, den er zitiert, und mir den Kopf darüber zerbrochen. Aber wie er es jetzt erklärt – das ergibt wirklich Sinn! Es ist, als fielen mir Schuppen von den Augen, als würde ich endlich klar sehen. Dieser Jesus war wirklich der Messias! O, Gott! Und wir haben ihn ermordet! Meine Gefühle überwältigen mich. Ich habe mich noch nie so leicht und klar, aber gleichzeitig so schwer und betrübt gefühlt! Ich bin voller Trauer und Schmerz und voller Freude zur selben Zeit! Niemals hatte ich so ein berauschendes, aber irgendwie auch unangenehmes Bewusstsein von Wahrheit. Als ich mich umschaue, merke ich, dass ich damit nicht allein bin. So ziemlich allen scheint gerade ein warmes Licht aufgegangen zu sein und gleichzeitig sind so viele alte Haltungen, Meinungen und Ansichten schmerzlich zerbrochen.
Der Mann vorne hat seine Predigt beendet und viele Momente herrscht eine seltsame, aber irgendwie heilige Stille. Wie reagiert man auf solch ein Ereignis, auf das Umkrempeln unserer aller Leben? Wie macht man weiter? Ich nehme mir ein Herz und trete einen Schritt vor. „Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?“, frage ich den Mann vorne und die ganze Betroffenheit und Scham, aber irgendwie auch diese Befreiung liegt in meiner Frage. „Ändert euren Sinn, und jeder von euch soll sich taufen lassen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen“, fordert er uns auf.
Ja, das will ich. Ich habe eher das Gefühl, dass mein Sinn schon dabei ist sich zu ändern. Mich taufen lassen auf den Namen des Messias, den wir töteten, aber der lebt und uns trotzdem vergibt. Das bekomme ich noch nicht in meinen Kopf, aber irgendwie hat es mich auf andere Weise erfüllt. Es scheint ein Geheimnis zu sein. Und jetzt weiß ich, worüber ich in Zukunft nachgrübeln will. Über dieses Geheimnis, damit sich mein Sinn immer weiter ändert durch das, was ich heute empfangen habe.
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