WHAT WOULD JESUS WEAR?

Heute geht’s um Minimalismus im Kleiderschrank. Aber nicht darum, wie viele Kleidungsstücke in einen minimalistischen Kleiderschrank gehören, sondern vor allem welche. Denn ich verbinde mit einem minimalistischen Kleiderschrank ganz besonders die Wertschätzung jedes einzelnen Kleidungsstücks.

Aber welchen Wert hat Kleidung in unserer Gesellschaft? Welchen Wert hat Kleidung für dich? Und was macht ein Kleidungsstück (für dich) wertvoll?

Jahrelang kaufte ich mir neue Kleidung ohne zu hinterfragen, wie es überhaupt möglich war, diese zu so günstigen Preisen produzieren zu können und ohne auch nur einmal die Produktions- und Lieferkette meiner Kleidungsstücke zu recherchieren.
Vor vier Jahren informierte ich mich aber (finally!) über die Herstellungs-, Transport- und Arbeitsbedingungen der größten Textilindustrien weltweit. Und vor vier Jahren entschied ich mich dazu, keine Kleidung mehr zu kaufen, die in diesen Textilindustrien hergestellt wurde.

Eine Entscheidung, die mich zwar anfangs herausforderte, aber die mit jeder meiner weiteren Recherchen sicherer und unabdingbarer wurde. Eine Entscheidung, die für mich als Christin, aber auch für mich als junge, deutsche, privilegierte Frau mehr als überfällig war. Eine Entscheidung, von der ich mir wünsche, dass sie noch so viel mehr Menschen treffen.

Warum?

  • Mehr als 70 % aller Textilien und Kleider, die in die EU importiert werden, kommen aus Kleidungsindustrien in Asien und Afrika. In den Industrien herrschen meist prekäre Arbeitsbedingungen (z.B. keine Sicherheitsvorschriften, keine Krankenversorgung, Akkordarbeit, schlechte Bezahlung, Forderung von Überstunden, etc.) *
  • In Bangladesch stürzte 2013 eine achtstöckige Textilfabrik ein. Mehr als tausend Arbeiter:innen starben, fast 2500 Menschen wurden verletzt. Ähnliche Unglücke passieren leider immer wieder.
  • 80% der Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie sind Frauen. Die meisten von ihnen sind unter 25 Jahren alt. Viele von ihnen sind minderjährig. Mehr als 70% der Frauen haben körperliche oder sexuelle Gewalt am Arbeitsplatz erfahren. Aus Angst, ihren Job zu verlieren, trauen sie sich meist nicht, sich zu wehren. Zudem werden Frauen in der Textilindustrie bis zu 30% weniger bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Bei Schwangerschaft und Krankheit gibt es kein Gehalt und keine Beurlaubung.
  • 93% der Textilunternehmen zahlen ihren Arbeiter:innen keinen Existenzlohn. Das bedeutet, dass die Textilarbeiter:innen ihre grundlegendsten Bedürfnisse und die ihrer Familie nicht decken können und deshalb viele Überstunden machen. Eine Näherin im Kambodscha verdient monatlich 146€, obwohl der Existenzlohn im Land bei 477€ liegt. Eine Näherin in Äthiopien verdient monatlich sogar nur 25€, obwohl sie mindestens das Doppelte bräuchte, um ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können.
  • Bedingt durch die Corona-Pandemie haben weltweit viele Textilarbeiter:innen ihre Arbeitsplätze verloren oder enorme Lohnausfälle erlebt, weil sie keine sicheren Arbeitsverträge hatten und auf kein Versorgungsnetz zurückgreifen konnten. Existenzielle Armut ist die Folge.

Das ist moderne Sklaverei!

Für mich stand fest: Mit jedem weiteren Kauf neuer Kleidung, die unter diesen grausamen und menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in den Textilindustrien produziert wurde, trug ich mit Schuld daran, dass Textilarbeiter:innen weiterhin weltweit ausgebeutet wurden!

Dabei wollte ich als Christin doch Jesus Auftrag nachkommen, meine Nächsten so zu lieben wie mich selbst und mit ihnen so umzugehen, wie ich es mir von ihnen wünschte. Aber wenn ich das wirklich wollte, konnte ich diese schockierenden Wahrheiten nicht ausblenden oder mit Aussagen wie „Ich bin noch Studentin und kann mir fair-gehandelte Kleidung nicht leisten“ relativieren!

Ich beschäftigte mich intensiv mit dem Thema und schnell untermauerten noch weitere schockierende Wahrheiten meine Entscheidung…

  • Die Modeindustrie verursacht mit 1,2 Milliarden Tonnen CO2 im Jahr mehr CO2 als der Schiffs- und Flugverkehr zusammen und trägt damit enorm zur Klimakrise bei.
  • Für die Gewinnung von 1kg Baumwolle werden ca. 170 Badewannen Wasser benötigt. Für das Färben von 1kg Garn nochmal 60 Liter.
  • 17-20% der weltweiten Wasserverschmutzung entstehen bei der Textilveredelung. 1kg Garn wird mit ca. 1kg Chemikalien bearbeitet, wovon ein großer Teil ins Abwasser gelangt.

Die Textilindustrie fördert also nicht nur moderne Sklaverei, sondern stellt auch noch eine enorme Umweltbelastung dar! Darüber hinaus setzt „Fast Fashion“ ein schnelllebiges, von Trends bestimmtes und auf hohen Profit ausgerichtetes Konsumverhalten auf Kosten der endlichen Ressourcen unserer Erde. Immer mehr Kleidung soll immer schneller und immer günstiger produziert werden, damit immer wieder neue Modetrends zu immer wieder neuen Käufen verleiten.

Aber was passiert dann mit all der Kleidung, die plötzlich nicht mehr dem Trend entspricht?

  • 1,3 Millionen Kleidung werden pro Jahr weggeschmissen. Pro Sekunde wird eine LKW-Ladung voll Kleidung verbrannt.
  • Alle 5 Minuten werden 1 Millionen neue Kleider hergestellt. Davon kauft jeder Mensch durchschnittlich 25kg im Jahr.
  • Jedes 5te Kleidungsstück im Kleiderschrank wird so gut wie nie getragen. Damit liegen ca. 1 Milliarde Kleidungsstücke ungetragen im Kleidungsschrank.

Das ist doch kaum zu glauben, oder?!
Die Lieferketten der Modeindustrie sind so unübersichtlich und intransparent, weshalb eine Nachverfolgung schwierig ist. Große Textilketten versuchen durch Marketing und PR-Maßnahmen ein „grünes Image“ zu erlangen, in dem sie „Greenwashing“ betreiben, obwohl Nachhaltigkeit und Umweltschutz noch immer nicht auf ihrer Agenda stehen. Kleidung wird immer mehr zu einem billigen Wegwerfprodukt.

Als ich mich mit all diesen Fakten auseinandersetzte, fühlte ich zuerst eine starke Ohnmacht in mir. Wie sollte ich irgendetwas an der Situation verändern? Was konnte ich tun?

Ich entschied mich für einen Boykott.
In den ersten zwei Jahren kaufte ich mir tatsächlich gar keine neue Kleidung. Das lag aber vor allem daran, dass mein Kleiderschrank ohnehin gut und reich bestückt war. Irgendwann brauchte ich neue Schuhe und fand ein tolles Paar auf Vinted (ehemals Kleiderkreisel), einer Secondhand-Plattform für Kleidung, Schuhe, Accessoires. Mit den Jahren informierte ich mich über nachhaltige und faire Modellabel und über Siegel, die faire und nachhaltige Mode auszeichneten. Die Kleidung war zwar teurer, aber dadurch überdachte ich meine Kaufentscheidungen in jedem Fall gut.

Heute hängt in meinem Kleiderschrank ein bunter Mix aus Kleidung, die ich schon jahrelang besitze und noch immer gerne trage, aus neu ergatterten Second-Hand-Schätzen und aus ein paar neu gekauften, fair-gehandelten und nachhaltigen Lieblingskleidungsstücken. Jedes dieser Teile trage ich regelmäßig und wenn mir etwas nicht mehr gefällt, verschenke oder verkaufe ich es.

But to be honest: es kostet mich durchaus immer mal wieder Überwindungskraft und Willensstärke, an meiner Entscheidung festzuhalten – insbesondere, wenn ich an Schaufenstern vorbeigehe und die schönen Kleider zu verlockenden Preisen sehe… Aber wenn ich mir die obigen Fakten wieder bewusst mache, weiß ich, dass sie keinen Kompromiss wert sind!

Ich schreibe diesen Beitrag aus dem Herzenswunsch heraus, mit meiner Entscheidung auch DICH inspirieren zu können, dein Kaufverhalten neu zu reflektieren und gemeinsam mit mir der Textilindustrie ein Zeichen zu setzen. Ich wünsche mir, dass wir die Menschen sehen, die unsere Kleidung hergestellt haben und dafür nicht ansatzweise gerecht entlohnt wurden. Ich wünsche mir, dass wir lernen, die endlichen Ressourcen unserer Erde wieder wertzuschätzen und uns neu fragen, wie viel Kleidung wir wirklich brauchen. Ich wünsche mir, dass wir uns unserer Privilegien bewusst werden und einen zunächst mal einen Anfang wagen.

Wie wird dein Kleiderschrank nachhaltiger, minimalistischer und fairer?

  1. Mach deinen Kassenbon zu deinem Wahlzettel!
    Mach dir bewusst, dass du in deiner Rolle als Konsument:in Macht hast, Veränderungen in Gang zu setzen! Treffe bewusste und reflektiere Kaufentscheidungen und fordere damit die Textilindustrie zum Umdenken heraus! Dein Kassenbon entscheidet, in welche Richtung sich die Textilindustrie entwickelt.
    „Konsument:innen entscheiden, was in welcher Menge produziert wird. Natürlich verändert ein Mensch alleine nicht die Welt, aber viele Individuen schon. Revolutionen passieren durch Individuen.“ – Jonathan Safran Foers
  2. Stelle dir folgende Fragen, bevor du dir ein neues Kleidungsstück kaufst:
  • Brauche ich dieses Kleidungsstück wirklich? Habe ich bereits ein Ähnliches?
  • Muss ich dieses Kleidungsstück neu kaufen oder kann ich es gebraucht im Internet oder auf dem Flohmarkt bekommen?
  • Wird es mir auch noch in 3 Jahren gefallen?
  • Kann ich es gut mit meinen anderen Kleidungsstücken kombinieren?
  • Ist die Qualität gut genug, damit ich es über viele Jahre tragen kann?

3. „Weniger ist mehr!“
Miste deinen Kleiderschrank regelmäßig aus und gib die Kleidung, die du nicht mehr trägst zu einer Kleidersammlung oder stell sie im Internet (z.B. auf Vinted) rein. Dann kann sich jemand anderes noch darüber freuen.

4. Informiere dich (und Andere)
…über moderne Sklaverei heute:
https://ijm-deutschland.de/sklaverei-heute/arbeitssklaverei

…über die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie weltweit und die Notwendigkeit von Existenzlöhnen:
https://femnet.de/
https://cleanclothes.org/
https://www.missio.at/naeherinnen-in-aethiopien/

…darüber, wie das neue Lieferkettengesetz aussieht und aussehen sollte: https://lieferkettengesetz.de/

…über Labels, die fair gehandelte und nachhaltige Kleidung produzieren:
https://fairknallt.de/facts/
https://aniahimsa.com/2019/12/06/fair-eco-fashion-guide-das-sind-meine-lieblingslabel/

& über Modeaktivismus:
https://fashionchecker.org/de/
https://fashionchangers.de/


* die genauen Quellen zu den Fakten habe ich aufgrund der Lesbarkeit nicht direkt verlinkt. Viele Informationen kannst du über die obigen Links nachlesen. Wenn du Interesse an den konkreten Quellenangaben hast, kannst du dich gern bei mir melden.


Die Ruhe in den Stürmen des Lebens

Pauline, 1994 im wunderschönen Thüringen geboren. Nachfolgerin Jesu, Sozialarbeiterin, liebt die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Würde eher in die Berge als ans Meer und liebt am meisten die Kombi aus beidem! Eher tropisches Klima als Eiseskälte. Aber die Abwechslung macht‘s! Liebt Fleisch, aber lieber selten und lieber Gutes! Sportlich, musikalisch und handwerklich interessiert! Zusammenfassung: Eine kunterbunte Mischung aus allem!


,,Ausruhen kann ich noch, wenn ich tot bin!‘‘

Den Satz hat jeder schon mal gehört. Vielleicht auch schon mal geglaubt.

Doch das Leben lehrt uns in so vielen wunderbaren Weisen oftmals Anderes als das, was wir mal gehört oder gelernt haben.

Pause. Ruhe. Stille.

Danach sehnen sich doch viele in den Stürmen des Lebens – oder einfach im ganz normalen Alltag. Und meistens reicht die Kraft noch sich auf den nächsten Urlaub zu freuen, bevor es danach mit dem normalen Wahnsinn weitergeht.

Aber Fakt ist: Dafür wurdest du nicht geschaffen!

Auch ich musste das in meinem Leben erst begreifen und habe das Gefühl, es noch immer nicht völlig verstanden zu haben.

Der ganz normale Wahnsinn kann auch schon im Studium starten – Prüfungsstress, Abgabetermine, etc…

Und mittendrin plötzlich ein Gedanke Gottes: Sabbat. Ruhetag. Huch, ganz schön religiös oder? Muss man das denn machen?

Viele Dinge, die Gott uns nahegelegt hat, erscheinen uns auf dem ersten Blick als Lebenseinschränkung.

Doch beim näheren Hinschauen entdeckt man, dass es sich eigentlich um liebevolle Hinweise für ein viel besseres Leben handelt: Hey, mach doch eine Pause und fang die Woche gechillt an!

Und das hab ich begonnen: Selbst im Prüfungsstress habe ich mir immer einen Tag freigenommen, um mal nix zu machen! Und ich habe mein Studium mit einer echt guten Note abgeschlossen! Durch diesen einen Tag konnte ich ausgeruht und mit neuem Elan in die neue Woche starten!

Du musst wissen, was deine Priorität ist. Und wenn es deine Priorität ist dir so einen Tag mal freizuschaufeln, dann wirst du das wirklich hinbekommen! J

Aber wie sieht das denn in der Arbeitswelt aus?

Genauso.

Auch im Schichtdienst – es muss ja nicht immer der gleiche Tag sein.

Aber auch hier war es für mich immer wieder eine neue Lernerfahrung – bis schließlich dahin sich ganze zwei Monate ,,Sabbatzeit‘‘ zu nehmen.

,,Darfse das?‘‘

Definitiv.

Du musst nicht erst kurz vor oder mitten im Burn-Out sein, um dir sowas mal zu ,,gönnen‘‘.

Gott gönnt dir. Immer!

Und es ist eine wunderbare Möglichkeit mit ihm viel Zeit zu verbringen und neue Dinge zu erfahren und zu entdecken und diese mit in die neue Woche oder eine neue Arbeitsstelle zu nehmen.

Es ist auch eine gute Möglichkeit mal einen Tag auf soziale Medien zu verzichten.

Dein Leben bekommt soviel mehr Qualität, sag ich dir!

Und das sag ich – die es liebt, wenn der Kalender voll ist und man möglichst viele unterschiedliche Dinge tut. Die es liebt, unterwegs zu sein und immer neue Abenteuer zu erleben.

Sabbat kann und ist definitiv ein Abenteuer – auf eine neue und ruhige Art und Weise.

Also: Chill mal! 🙂


Mehr von Pauline gibt’s auf ihrem Blog zu lesen.
Foto: Pauline Peschel

Ich bin da – und was nun?

Kathi, 23, studiert Sonderpädagogik. Ist begeistert davon, andere Menschen, Kulturen und Länder kennenzulernen. Liebt es ausgiebig in Gemeinschaft zu frühstücken. Erlebt während Gebetsspaziergängen den besten Austausch mit Gott..


Ich bin da – in dem Hotspotcamp der EU – und was nun?

Ich bin da, an einem Ort, der von der EU über Jahre hinweg als Hotspot der Flüchtlingsthematik gesehen wurde. Das Moria Camp auf Lesbos. Ein Ort, an dem viel zu viele Menschen schon viel zu lange in kleinen Zelten und Baracken unter schlimmsten, teilweise unmenschlichen Lebensbedingungen leben mussten und auch weiterhin leben. Vor Ort zu sein heißt nicht unbedingt, dass man in alles einen Einblick bekommt. Und es heißt auch bei weitem nicht, alles verändern zu können. Ich habe oft abends reflektiert, was das vor Ort sein heute für mich spezifisch bedeutet hat. Manchmal ging es darum, praktisch anzupacken. Die Habseligkeiten einer Familie durch das ganze Camp zu tragen und in einem neuen Zelt ein Zuhause zu schaffen. Aber immer wieder ist es auch notwendig, Personen von einer Panikattacke zu beruhigen und Arzttermine für sie auszumachen. Im Allgemeinen geht es wohl darum, das Beste aus dem zu machen, was der Ort zu bieten hat. Es geht darum, Beziehungen aufzubauen zu den Menschen, für die die sozialen Kontakte und die Gemeinschaft aufgrund ihrer Kultur vor allem stehen und die mit ihrer Offenheit, Herzlichkeit und Gastfreundschaft beeindrucken.  

Ich bin da – auf Lesbos nach dem Feuer – und was nun?

Ich bin an einem Ort, der seit dem großen Brand im September 2020 nicht mehr derselbe ist und Menschen innerhalb und während ihrer Flucht durch einen weiteren Grund fliehen lässt. Ein Ort, der sich ständig verändert. Von dem Leben auf der Straße über kleine und große Schritte zu der Errichtung eines neuen Camps. Besonders hier stellt sich heraus, wie die vielen Männer, Frauen und Kinder in den letzten Monaten oder Jahren ihrer Flucht gelernt haben, mit fast nichts zu überleben. Sogar auf der Straße wird man noch zu einem Tee eingeladen. Vieles bleibt dabei aber vor meinen Augen auch verborgen. Zum Beispiel dass die Polizei eine Menschenmenge mit Tränengas in Schacht zu halten versucht. Manchmal ist das vor Ort sein dazu da, um eine verzweifelte Frau lange und fest zu umarmen, mit ihr zu weinen und für sie zu beten. Und vor Ort zu sein, heißt manchmal auch mitzubekommen, wie sich ein Mann für eine ihm unbekannte Großfamilie mit kleinen Kindern für ein gutes, wetterfestes Zelt einsetzt und nicht nur sein eigenes Wohlergehen im Blick hat. Es handelt sich also um einen Ort, der unglaublich viele Emotionen für alle Beteiligten bereithält. Besonders die Hoffnung in einer oft so scheinbar hoffnungslosen Welt dieses Camps zieht sich durch diesen Ort. Hoffnungen auf einen Arzttermin, auf einen Transfer aufs Festland, auf mehr Essen, auf ein größeres Zelt, auf vieles mehr. Es sind alles Hoffnungen, die sehr oft durch die Entscheidungen anderer Menschen wieder zerstört werden und die Campbewohner in völliger Abhängigkeit von anderen Menschen leben lassen. 

Ich bin da – zurück in meiner Heimat – und was nun?

Im direkt am Wasser gebauten Camp herrschen zusätzlich durch Wind und Wetter wirklich menschenunwürdige Lebensumstände. Die kalten Wintermonate verbringe ich im Warmen. Das vor Ort sein heißt hier für mich, dass ich mein Studium fortsetzen kann, das Haus täglich verlassen darf, Freunde und Familie sehen kann und ich relativ selbstbestimmt lebe. Für mich stellt sich die Frage, was die Zeit auf Lesbos in mir verändert hat, wie ich mit diesen Erlebnissen weiterhin umgehe und vor allem, was andere Leute mit meinen Erzählungen anfangen können und sollen. Ich habe dazu weniger Antworten als ich sie gerne hätte. Vielleicht eher Reflexionsfragen, die vor allem mir gelten, vielleicht aber auch dich zum Nachdenken anregen. Ich habe mir vor Ort vorgenommen, die Menschen und ihre Situation im Gebet weiterhin zu begleiten. Dreimal darfst du raten. Es gelingt mir so viel weniger, als ich es mir wünschen würde. Die erste Woche in Deutschland wollte ich auch erst mal gar nichts mehr davon hören, geschweige denn davon erzählen. Erzählungen über die schreckliche Situation vor Ort sind für die meisten nicht so sehr neu. Für den Zuhörer wird es vermutlich nur etwas konkreter und persönlicher. Dass es ein Ort ist, der in seiner Form schon lange nicht mehr bestehen sollte, ist bezogen auf das ganze Ausmaß, vermutlich trotzdem nur Wenigen klar.

Mit der durch Berichte und Bilder geschürten Aufmerksamkeit für das Camp kann ich eventuell zu der Unterstützung der Organisationen vor Ort, zu der Teilnahme an Demonstrationen und zu dem Beten für diese vielen Menschen aufrufen. Aber was ist nun, wenn ich wieder in meiner Heimat bin, weit weg von der Lebenssituation so vieler geflüchteter Menschen und eingehüllt in meinen sicheren Alltag. Ein Gedanke, der mich hier beschäftigt, wurde mir schon vor meiner Abreise mitgegeben. Was passiert denn in meiner Heimat mit den Menschen, die es in mein Herkunftsland geschafft haben? Wie gehe ich oder wie gehen wir als Gesellschaft mit ihnen um? Setze ich mich für sie ein? Menschen, deren Traumatisierungen mit dem Erreichen eines sogenannten sicheren Landes nicht einfach aufgehoben sind. Menschen, deren Hoffnung auf eine Einreise nach Deutschland erfüllt wurde. Aber bin nicht ich diejenige und sind nicht wir diejenigen, die mal wieder die Hoffnung zerstören? Sind nicht manchmal auch wir die Menschen, die Deutschland als ein unpersönliches und kaltes Land erscheinen lassen, in dem die Bürokratie und das Arbeiten oft einen zu hohen Stellenwert einnimmt? Ich muss mir selbst die Frage stellen, ob ich nicht zuerst hier an dem Ort, an dem ich jetzt nun mal bin, anfange zu wirken. Anfange, mit den Leuten Zeit zu verbringen, sie zu schätzen und willkommen zu heißen und nicht schon wieder darüber nachdenke, erneut ins Camp oder das nächste Land zu reisen. Das ist sicherlich wichtig und die Unterstützung der Organisationen vor Ort ist notwendig. Aber das sind nicht die einzigen Menschen, die Hilfe brauchen. 

Wir sind da – genau an diesem Ort – und was nun? 


Foto: Silas Zindel

Die Kunst des Helfens

Damaris. 26. Referendarin. Begeisterte Gastgeberin. Liebt es Gott in der Natur und im gemeinsamen Lobpreis zu begegnen.


Hier war ich nun. Im neuen temporären Camp auf Lesbos. An der europäischen Außengrenze statt wie geplant in Südamerika. Im Oktober statt wie geplant im September, da der Brand im Camp Moria auch meinen Plan B erst einmal durchkreuzt hatte. Aber jetzt war ich hier, überaus motiviert. Endlich konnte ich meine freie Zeit zwischen Studium und Referendariat dazu nutzen, Menschen in Not aktiv zu helfen. Jesu Liebe in praktischer Weise weiterzugeben. Doch nach meinem ersten Tag im Camp war ich einfach nur enttäuscht. Ich hatte keineswegs das Gefühl, den Menschen zu helfen – eher im Gegenteil…

Eine meiner Aufgaben an Tag eins bestand nämlich darin, zusammen mit einer anderen Freiwilligen einigen Familien neue Behausungen zuzuweisen. Aufgrund des Regens waren ihre Zelte am Tag zuvor überflutet worden und sie waren übergangsweise in einer der großen Hallen untergekommen. Von unserem Housing-Koordinator hatten wir einen Zettel mit möglichen freien Zelten bzw. Zelthälften (meistens leben zwei Parteien in den 12m² Zelten) bekommen. Die Familien waren allerdings keineswegs zufrieden mit unseren Vorschlägen. An jedem Zelt, das begutachtet wurde, gab es etwas auszusetzen: zu nah am Meer, zu instabil, mit den Nachbarn käme man nicht klar. Sie wollen lieber ihr altes Zelt reparieren, wollen mit den Großeltern zusammenbleiben und so weiter. Es wurde diskutiert und nach Alternativen gesucht. Am Ende des Tages blieben fast alle Familien eine weitere Nacht in der Halle, weil keine zufriedenstellende Behausung gefunden werden konnte. Gefühlt hatte also alles nichts gebracht: das ganze Verhandeln, das Nachvollziehen der verschiedenen Standpunkte und das Abwägen der wenigen Optionen. Enttäuscht und müde vom vielen Laufen fiel ich in mein Bett. So hatte ich mir die Arbeit auf Lesbos nicht vorgestellt. Ich war gekommen, um den Menschen dort zu helfen. Nicht mit dem Anspruch, dauernd ein „Danke“ zu bekommen oder den Leuten täglich ein Lächeln aufs Gesicht zaubern zu können. Allerdings schon mit der Vorstellung zu bewirken, dass sich durch meine Arbeit die Menschen zumindest für einen Moment besser fühlten. Mit ihnen zu diskutieren und ihnen versuchen klarzumachen, dass dieses Zelt leider ihre letzte Option sei, gehörte für mich nicht zur Definition von Helfen. In den zwei Monaten auf Lesbos lernte ich jedoch, dass jemanden zu helfen sehr facettenreich sein kann.

Nach meinem ersten Tag lag ich u.a. enttäuscht im Bett, da ich meine Aufgabe, die Familien in neuen Zelten unterzubringen, nicht erfolgreich erledigt hatte. Mir wurde beteuert, dass das ganz normal sei und dass sich das Finden von neuen Behausungen, mit denen alle Beteiligten zufrieden sind, auch über mehrere Tage ziehen könne. Trotzdem fühlte es sich nicht gut an. Ich konnte den Familien nicht dabei helfen, wieder ihre eigenen vier (Zelt)Wände zu haben, anstatt in einer riesigen Halle ohne Privatsphäre schlafen zu müssen. Am Ende konnte ich kein direktes Ergebnis vorweisen. Heißt das nun, dass ich ihnen nicht geholfen habe? In der Situation fühlte es sich so an, doch rückblickend kann ich sagen, dass meine Hilfe darin bestanden hatte, zu versuchen, ihre Standpunkte zu verstehen, Verständnis zu zeigen und Alternativen zu suchen. Der Handlungsspielraum der NGOs im Camp ist leider sehr eingeschränkt, sodass die direkte, benötigte Hilfe oftmals nicht geleistet werden kann. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit kann sehr niederschmetternd sein, gerade weil man ja zum Helfen gekommen ist. Silas, ein weiterer Freiwilliger, erzählte bei einer Andacht am Morgen von einer ähnlichen Situation. Nach einem schlimmen Unwetter kam ein Geflüchteter zu ihm und beschwerte sich über die miserablen Zustände im Camp. Silas fühlte sich hilflos, da er keinen der erwähnten Punkte ändern konnte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, also hörte er dem Mann einfach nur zu. Nachdem dieser seinen ganzen Frust in einem Monolog abgelassen hatte, bedankte er sich bei Silas und ging.

Als Christen dürfen wir uns sicher sein, dass Gott uns auf dieser Erde gebrauchen möchte. Das tut er auch, wenn wir uns gerade hilflos fühlen und daran zweifeln, ob unsere momentane Arbeit überhaupt noch Sinn ergibt. Oftmals können wir Menschen auch auf anderen Wegen helfen, die uns selbst vielleicht klein oder unbedeutend vorkommen.   

Die Zeit mit EuroRelief auf Lesbos hat meine Definition von Helfen erweitert. Es geht nicht immer darum, ein Ergebnis vorzuweisen oder zu bewirken, dass beide Seiten sich direkt danach besser fühlen. Ich bin jedoch dankbar, dass ich auch ganz viele Momente erleben durfte, in denen strahlende Augen und ein „tashakur“ (Danke) die ganz natürlichen Reaktionen auf meine Hilfe waren.


Foto: Silas Zindel

Zwischen Chemo und Lockdown 2

Jana. 27. Sonnenmensch. Glücklichst verheiratet. Selbstmacherin. Gemeindediakonin. 
Herzschlag: Gott, Gemeinschaft und Gastfreundlichkeit.


Diagnose Brustkrebs. Bis 2020 war mir das ein völlig unvertrautes Leiden. Hier und da habe ich von Bekannten gehört, die an Krebs leiden, aber was das genau für diese Menschen bedeutet, das konnte ich nicht erfassen. Bis meine Mutter im Frühjahr 2020 die Diagnose Brustkrebs gestellt bekam. Zeitgleich mit dem Einzug von Corona und des Lockdowns. Während der Zeit ihrer Brustkrebs-Therapie schrieb meine Mutter Nachrichten an Freunde und Unterstützer. Weil ich jede Nachricht tief und berührend fand, weil meine Mutter es schafft, gleichzeitig ihr Leiden auszudrücken und die Hoffnung im Blick zu haben, weil niemand sonst (und schon gar nicht ich) so authentisch davon berichten kann, was man in einer solchen Phase durchmacht, wegen all dieser Gründe möchte ich heute gar nicht so viel selbst schreiben, sondern meine Mutter durch ihre Nachrichten zu Wort kommen lassen. Und ihr werdet sehen: Meine Mama ist eine Heldin! 

13.08.2020 16:47

… Die Medikamente, die ich in den letzten vier Monaten immer wieder bekam, haben ihre Spuren hinterlassen. Mein Magen ist sehr empfindlich geworden, meine körperliche Kraft ist eingeschränkt und ich bin immer wieder sehr müde. Alles Nebenwirkungen der Chemo und der Begleitmedikamente. […] Meine Blutwerte haben sich [dagegen] in den letzten Wochen wieder stabilisiert. Und bald werden auch meine Haare wieder anfangen zu wachsen, gerade rechtzeitig für die kältere Jahreszeit ;-). […] 

Es bleibt eine spannende Zeit für mich. […] Und auch wenn es weiterhin Ungewissheiten gibt, will ich hoffnungsvoll in die Zukunft gehen. Ich habe große Sehnsucht, wieder am normalen Leben teilnehmen zu können (was zu Coronazeiten halt normal ist), möchte wieder Leute treffen, Gottesdienste besuchen und Kontakte pflegen; aber die nächste Zeit muss ich noch vorsichtig sein, mein Immunsystem ist noch zu labil.

Ob ich wieder ganz gesund werde? Ich hoffe es und ich habe Chancen, aber garantieren kann es niemand. Noch vor einem Jahr ging ich davon aus, dass ich ganz gesund und noch recht fit bin. Es kann sich alles so schnell ändern. Der Gedanke, dass unser Leben in Gottes Hand ist, dass ER Anfang und Ende bestimmt, entlastet mich. Ich will weiter darauf vertrauen, dass ER den Plan hat. […]

13.09.2020 09:49

… Zwar hat die Chemotherapie verhindert, dass der Tumor weiterwuchs, sie hat ihn im Gegenteil weitgehend aufgelöst, aber das Wissen, dass dieses „Ding“ immer noch in mir ist, hatte mich doch immer belastet.

Am Tag vor der OP wurden in einem radiologischen Verfahren die Lymphknoten markiert; auch dies eine spannende Sache für mich, da man nun unter der OP sehen würde, ob ein Lymphknotenbefall vorliegt. Mein Herz klopfte, während die überdimensionale Kamera über mir schwebte und ich still liegen musste. Diese ganzen diagnostischen Verfahren sind sehr schwer auszuhalten, man fühlt sich ein Stück weit der sterilen Gerätemedizin ausgeliefert; die Mitarbeiter sind meist sehr sachlich und man fühlt sich allein mit seinen Ängsten. Da kommt mir heute zugute, dass ich im Konfirmandenunterricht viele Bibelverse auswendig lernen musste, die ich mir dann bei diesen Untersuchungen vorsage … und das hilft wirklich!

Die OP ging dann sehr gut vorüber. Ich hatte hinterher so gut wie keine Schmerzen, fühlte mich sehr schnell wieder fit und wurde im Krankenhaus gut versorgt. Nach fünf Tagen durfte ich schon nach Hause. Und das Schönste war, als mir die Ärztin sagte, dass die Lymphknoten nicht befallen sind. Ich bin sehr dankbar dafür.

[…] Wenn ich zurückschaue, was im letzten halben Jahr alles passiert ist, dann sehe ich viele beängstigende Situationen, die ich durchstehen musste, mein Körper wurde geschwächt und die Seele durchgeschüttelt. Und trotzdem sehe ich, wie ich durch diese Krisen durchgetragen wurde, ich sehe die Handschrift Gottes, der uns zusagt, uns niemals allein zu lassen, auch wenn wir ihn nicht immer spüren. Ich möchte ihm weiter vertrauen, dass er es gut mit mir meint. […]

07.10.2020 09:35 

… So ging ich nach dem Urlaub recht entspannt zum Gesprächstermin im Krankenhaus, da ich erwartete, dass jetzt nur noch mitgeteilt wird, wann meine Strahlentherapie beginnt. Immerhin hatte mir der Chefarzt ja vor der OP gesagt, der Tumor habe sich ziemlich aufgelöst…

Nun eröffnete mir die Oberärztin, dass die Chemo doch nicht so gut gewirkt habe, von drei Stufen nur Stufe 1, und dass sie deshalb jetzt beschlossen hätten, ich solle zur Sicherheit nochmal eine orale Chemotherapie machen, die über ein halbes Jahr gehen würde. Mit zahlreichen fiesen Nebenwirkungen derart, wie ich sie schon bei der ersten Chemo erlebt hatte, und parallel zur Bestrahlung. Ich war erstmal völlig geschockt und zutiefst entmutigt. Wie soll mein Körper und Immunsystem, das von der ersten Chemo ja noch nicht wieder ganz erholt ist, das verkraften, mit Schädigungen, die vielleicht irreversibel sind?

Jochen und ich haben dann ein Gespräch mit meiner Frauenärztin gesucht, die sich viel Zeit nahm und meine Bedenken absolut teilte. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese neue Chemo einen positiven Effekt hat, liegt bei unter 10 Prozent und kann auch nicht gemessen werden. Sie ist ein Schuss ins Blaue. Auf meine Frage, wie sie in meiner Situation entscheiden würde, sagte die Gynäkologin: „Ich würde diese Chemo nicht machen!“ Dasselbe bestätigte mir auch ein anderer Arzt, den ich um seine Meinung bat. Auch er riet mir davon ab. So habe ich nach reiflichen Überlegungen beschlossen, diese Chemotherapie abzulehnen. […]

Ich bin ein Mensch, der gern Sicherheit hat. Es ist nicht leicht für mich auszuhalten, dass mir diese Sicherheit niemand geben kann. Auch die Chemo kann mir diese Sicherheit nicht geben. Es könnte mir nicht mal jemand sagen, ob sie denn auch gewirkt hätte, das lässt sich nicht mehr messen, da der Tumor ja schon entfernt ist. Mir bleibt jetzt, auf Gott zu vertrauen, der letztendlich mein Leben in der Hand hält, der den Anfang und das Ende kennt. Als ich die letzten Tage früh wach wurde und meine Gedanken durcheinanderwirbelten, las ich in der Tageslosung den Vers:

„Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen“.

Darauf will ich bauen. Mein Verstand ist begrenzt (ja wirklich……;-), ich weiß nicht, was das Beste für mich ist. Ich kann nur vertrauen, auch wenn das noch ein Lernprozess ist. […]

20.11.2020 18:54

… […] Jetzt merke ich, wie ich mich jeden Tag besser fühle, der Magen beruhigt sich wieder und dank unserer langen Spaziergänge, die Jochen und ich fast täglich machen, bin ich körperlich ziemlich fit. Dafür bin ich sehr dankbar.

[…] Die Kontakte fehlen mir. Mir ist klar, dass wir alle sehr darunter leiden, uns nicht mit anderen treffen zu können, viel Zeit zu Hause verbringen zu müssen und trotzdem immer damit rechnen müssen, uns selbst dieses Virus einzufangen. […] Es fühlt sich manchmal sehr einsam an; gerade jetzt wünsche ich mir wieder ein Stück Normalität, aber das wird noch lange nicht möglich sein. So freue ich mich, ab und zu mit Freunden eine Wanderung zu machen, dabei kann man auch wunderbar erzählen, und wir nutzen gern die Möglichkeit der Online-Gottesdienste.

Ich hoffe jetzt einfach, dass mein Körper sich wieder erholt, dass die Krebszellen alle beseitigt wurden und ich dauerhaft gesund werde. Beim letzten Gespräch mit dem Strahlenarzt fragte ich, ob ich die Chance hätte, wieder ganz gesund zu werden. Er sagte: „Natürlich haben Sie das! Sie haben alles Nötige getan.“ Eine Garantie gibt es nicht, auch nicht, wenn ich diese zweite Chemo noch gemacht hätte. Es wird mir immer wieder auch von Ärzten bestätigt, dass meine Entscheidung, diese abzulehnen, nachvollziehbar und richtig war. Jetzt will ich nach vorne schauen und mein Leben in Gottes Hand legen. 

Ich habe ein Kästchen im Wohnzimmer, das prall gefüllt ist mit Briefen und Karten, die mich während meiner Krankheit erreichten. Sie sind mir alle sehr viel wert, genauso wie die vielen E-Mails und sonstigen Nachrichten, die ich immer wieder bekam, die Terrassenbesuche im Sommer und die Geschenke, mit denen ich überrascht wurde. All diese Aufmerksamkeiten haben mir so sehr geholfen, die schweren Zeiten zu überstehen. Vielen Dank euch allen! […]

Bleibt behütet!
Liebe Grüße
Andrea

Zwischen Chemo und Lockdown 1

Jana. 27. Sonnenmensch. Glücklichst verheiratet. Selbstmacherin. Gemeindediakonin. 
Herzschlag: Gott, Gemeinschaft und Gastfreundlichkeit.


Diagnose Brustkrebs. Bis 2020 war mir das ein völlig unvertrautes Leiden. Hier und da habe ich von Bekannten gehört, die an Krebs leiden, aber was das genau für diese Menschen bedeutet, das konnte ich nicht erfassen. Bis meine Mutter im Frühjahr 2020 die Diagnose Brustkrebs gestellt bekam. Zeitgleich mit dem Einzug von Corona und des Lockdowns. Während der Zeit ihrer Brustkrebs-Therapie schrieb meine Mutter Nachrichten an Freunde und Unterstützer. Weil ich jede Nachricht tief und berührend fand, weil meine Mutter es schafft, gleichzeitig ihr Leiden auszudrücken und die Hoffnung im Blick zu haben, weil niemand sonst (und schon gar nicht ich) so authentisch davon berichten kann, was man in einer solchen Phase durchmacht, wegen all dieser Gründe möchte ich heute gar nicht so viel selbst schreiben, sondern meine Mutter durch ihre Nachrichten zu Wort kommen lassen. Und ihr werdet sehen: Meine Mama ist eine Heldin! 

27.04.2020 16:51

… Eigentlich habe ich die Chemo ganz gut vertragen, d.h. ich verspüre eine leichte Übelkeit, die aber zu ertragen ist und die sogar manchmal besser wird, wenn ich etwas esse. Dafür habe ich eine starke Abneigung gegen das Trinken, da dies aber sehr wichtig ist, zwinge ich mich dazu. Vor der Chemo erhielt ich Begleitmedikamente, die die Nebenwirkungen abfangen sollen. […]

Was ich jetzt nach einigen Tagen merke, ist, dass meine Kraft deutlich abnimmt. Ich werde schnell müde und auch sehr dünnhäutig, muss mich immer mal hinlegen. Direkt nach der Diagnose meiner Krankheit war ich wie erstarrt, jetzt und gerade heute merke ich, wie mich die Anspannung der letzten Wochen, das Auf und Ab der Gefühle, die schwierigen Entscheidungen, die ich und wir treffen mussten, mich gefühlsmäßig umhauen; die Tränen sitzen heute sehr locker. Ich bin sehr froh, dass momentan Jana und Marian da sind, die mich ganz viel unterstützen, mir viel abnehmen, meine ganze Familie ist da und trägt meine Gefühlsausbrüche mit Fassung. Das bedeutet mir sehr viel!

Ich danke euch allen für die vielen Grüße und lieben Worte, die immer wieder bei mir eintreffen, auf unterschiedlichsten Wegen. Zu wissen, dass ihr an uns denkt und für uns betet, ist ein tolles Geschenk, das auch dann trägt, wenn man selbst nicht mehr fähig ist zu beten. […] Ich wünsche euch eine gute Woche, bin mir bewusst, dass es für alle keine leichte Zeit ist und wir alle gerade viel Unruhe und Ungewissheit in unserem Leben haben. […]

10.06.2020 18:31

… Seit einigen Tagen fühle ich mich wieder ziemlich in Balance, ich habe mich von den Strapazen der letzten Chemo erholt und fühle mich recht fit. Die Tage direkt nach der Therapie sind immer etwas beschwerlich. Übelkeit, Magenschmerzen und Müdigkeit legen mich dann ziemlich lahm, Gespräche und Telefonate empfinde ich in dieser Zeit als extrem anstrengend; am liebsten habe ich dann meine Ruhe. Nach einer Woche beginne ich mich immer mehr zu erholen … und wenn es mir dann wieder richtig gut geht, kommt die nächste Chemo. Aber ich bin dankbar für diese Tage, wo ich mich fast gesund fühle und auch einiges tun kann. Allerdings muss ich mich weiterhin streng von Kontakten fernhalten, da meine Leukozyten immer wieder abstürzen und ich dadurch infektionsgefährdet bin. Ich bin froh, dass Jochen viel zu Hause sein kann, sodass ich nicht ganz alleine in meiner Isolation bin.

Letzten Freitag wurde ein Ultraschall gemacht, der zeigen sollte, ob sich der Tumor unter der Chemo schon verkleinert hat. Leider ist dies wohl nicht der Fall; wobei der Tumor so lokalisiert ist, dass er sich generell nicht gut im Ultraschall darstellt. […] Ich hatte große Hoffnungen daraufgesetzt, dass man schon eine Auswirkung der Chemo erkennen kann und war erstmal bitter enttäuscht, dass dem nicht so ist. Jetzt habe ich Angst, dass ein neuer Wirkstoff neue unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringen kann und dass sich möglicherweise die Anzahl der Chemo-Zyklen erhöht. Ansonsten hätte ich am Freitag die Hälfte geschafft. Ich hoffe so sehr, dass es dabei bleibt, dass sich doch noch eine Wirkung des jetzigen Zytostatikums zeigt und man wie geplant fortfahren kann!

Neben den körperlichen Nebenwirkungen, die mir immer wieder zu schaffen machen, wirken sich die Medikamente auch auf meine Psyche aus. Die ersten Tage nach der Chemo bin ich sehr „weinerlich“ und labil. Glücklicherweise wird auch das besser, wenn die körperlichen Beschwerden abklingen. Insgesamt merke ich immer wieder: So eine Therapie ist kein Spaziergang, sie fordert alle Kraft und alle Reserven, die man hat. Und manchmal sind die Reserven auch mal aufgebraucht… […]

30.06.2020 10:53

… Danke für euer Interesse, eure Nachfragen, die mich fast täglich in Form von elektronischen Nachrichten, Briefen und Karten erreichen, für die Päckchen, die ich per Post erhalte oder die plötzlich auf geheimnisvolle Weise vor unserer Haustür liegen! Es rührt mich und uns immer wieder neu, wie viele Menschen in Gedanken bei uns sind und helfen, diese schwierige Zeit zu ertragen! Das ist ein großes Geschenk!

Am vergangenen Freitag bekam ich also meine fünfte Chemo mit einem neuen Wirkstoff. Ich rechnete mit neuen unangenehmen Nebenwirkungen und war deshalb sehr erfreut und dankbar, dass diese bisher ausblieben, dass es mir sogar wesentlich besser geht als mit dem ersten Wirkstoff. Die Übelkeit und Kreislaufprobleme blieben aus, und was mich besonders freut, ist, dass es mir diesmal nicht so auf die Psyche geschlagen ist und ich mich viel belastbarer fühle. […]

Als ich die Oberärztin nach ihrem Urlaub nach einem weiteren Kontroll-Ultraschall fragte, reagierte sie leicht genervt. Ich würde mich zu viel an Kleinigkeiten aufhalten, man müsse jetzt erstmal abwarten und ich sei viel zu angespannt… Nun ja, ich empfinde diese Krankheit und die Ungewissheit absolut nicht als Kleinigkeit und überlege, ob eine gewisse Anspannung nicht normal ist. Ich möchte die Therapie nicht einfach über mich ergehen lassen, sondern auch wissen, was mit mir passiert, deshalb werde ich auch weiterhin nachfragen. […]

Corrie ten Boom, die bekannte Holländerin, die während der Naziherrschaft ins KZ kam, weil sie Juden versteckt hatte und die durch tiefste Tiefen ging, schrieb: „Wenn wir im Zug sitzen und es geht in einen Tunnel, vor dem wir Angst haben, dann springen wir nicht vorher ab, sondern wir bleiben sitzen und vertrauen dem Zugführer, dass er uns sicher hindurchbringt.“

Das ist es, was ich in dieser Situation erlebe. Die Angst, die Anspannung ist immer wieder da; trotzdem will ich vertrauen, dass Gott mich durch diese Situation bringt, egal, wie lange und wie schwarz der Tunnel ist. […]

20.07.2020 20:58 

… […] Vor zwei Wochen wurde nochmals ein Ultraschall gemacht, und die Oberärztin konnte mir die freudige Mitteilung machen, dass man nun deutlich sehen kann, wie die Chemotherapie auf den Tumor einwirkt. Das war so eine schöne Nachricht für mich; die ganzen Strapazen der Chemo haben sich ausgezahlt, waren nicht umsonst! Die Ärztin freute sich mit mir: „Jetzt würde ich Sie gern mal drücken!“ Was sie natürlich wegen der Corona-bedingten Abstände nicht machte… Aber es war eine schöne Geste, über die ich mich sehr freute. 

[…] Am kommenden Freitag kommt also die siebte und vorletzte Chemo. Wenn die ganze Chemotherapie abgeschlossen ist, soll nach drei bis vier Wochen der Tumor bzw. das, was von ihm noch übrig ist, operativ entfernt werden. Danach ist noch eine Strahlentherapie geplant. Die Therapie wird mich also noch für den Rest des Jahres beschäftigen. Doch ich glaube, die Chemo ist der härteste Brocken, und den habe ich bald geschafft. […]


Fortsetzung folgt am 19. März.

Hart, herzlich, Heimat

Jeder, der mal seine Heimat verlassen hat, kennt das: Der Weg nach Hause steht an. Bei den einen öfter, bei den anderen eher selten. Bei den einen vorfreudig, bei den nächsten unliebsam. Ein Familienfest, ein Geburtstag, eine Hochzeit oder – wie in meinem Fall – ein Junggesellenabschied. Hinzu kommt noch die Zeit der Semesterferien, die manche länger und andere wiederum kürzer daheim, also zu Hause oder in der alten Heimat verbringen. Diese Hommage geht an all diejenigen raus, die gerne emotional aufgeladene, vor Vorfreude sprudelnde Comebacks feiern. An alle, die einen neuen Lebensabschnitt an einem neuen Ort angefangen haben und immer mal wieder heimkehren. An all diejenigen, die gerne auf die guten alten Zeiten anstoßen. An alle, die gerne nostalgisch werden, wenn am Lagerfeuer beim Kaltgetränk Erinnerungen geteilt werden. 

Florian, 24 Jahre jung und aus dem schönen, schwäbischen Teil des Nordschwarzwalds bei Calw (#Vollblutschwabe). Seine Leidenschaften: Gastgeber sein, stupides Fußballschauen, Sport aller Arten mit anderen Leuten zelebrieren und machen, Musizieren und Dummschwätzen. In Freundschaften schätzt er am meisten Ehrlichkeit und Humor.

Nur um eines klarzustellen: Ich bin niemand, der ungern studiert, Akademikerkreise hasst und weg von zu Hause musste. Allerdings hatte ich nach drei Jahren Bachelor und der täglichen Pendelei die Gewissheit, nochmal was ganz anderes studieren zu müssen. Ein Studiengang, den ich von zu Hause nicht erreichen konnte. Hinzu kam das Gefühl, das finale Flügge Werden passiert nicht im eigenen Kinderzimmer. Dieses Gefühl wurde in meinem Falle durch alte Schultüten sowie uralte Poster von der VfB-Meistermannschaft 2007 verstärkt: Sie hängen bis heute in meinem Kinderzimmer.

Dennoch fragte ich mich, woher diese Heimatverbundenheit kommen kann. Meine kurze Antwort: Hart aber herzlich. Während ich erlebe, dass in wunderbaren Städten wie zwischen Nordbaden und Mittelhessen großartige Menschen Sensibilität, Empathie sowie Gespräche unter vier Augen (die ab und an in gefühlten tiefenpsychologische Analysen ausarten) großgeschrieben werden, ist das anderswo komplett verschieden. So ist es in meiner Heimat etwas anderes, was ich dort an meinen Allerliebsten schätze: Selbstironie, homogene Massen von bis zu 20 Leuten, die in Sport- und Freizeitanliegen schnell auf einen Nenner kommen, sowie die Bereitschaft auch mal einen Spruch zu drücken, nur um sich in der nächsten Sekunde wieder zu vergeben und weiter zu necken. Und sich, wenn es Kaltgetränke gab, tief in den Armen zu liegen. Wo mit 23 Jahren auch mal eine Klobürste unter der Bettdecke liegt. Wo sich mit gepflückten Brennnesseln Schmerzen gegen die Wade zugefügt werden, wo blaue Flecken ein Zeichen von gelebter Männerfreundschaft sind und wo ein Weizenbier mehr wert ist als ein verklemmter Caipirinha. Ich glaube, dass ich stundenlang so weiter schreiben könnte. Da geht mir persönlich einfach das Herz auf, wie die Sonne am 21. Juni. Zum Beispiel, dass H.P. Baxxter bei Roadtrips mehr Wert für die Gemeinschaft gibt, als Salsa und Reggeaton-Parties. Oder dass zarte Berührungen mit einem herzhaften Klaps in den Nacken ersetzt werden und somit die sechste Sprache der Liebe darstellt. Nun aber Schluss: So langsam werden diese Beispiele zu persönlich sowie männerspezifisch und dieser Text noch subjektiver als er sowieso schon ist. 

Doch nochmal: Das sind alles Dinge, die mit Sicherheit auch da passieren, wo wir eben nicht groß geworden sind, wo wir studieren, mittlerweile leben, hingezogen sind. Menschen sind überall unterschiedlich und auch nirgends genau gleich. Wenn du die Chance in deinem Leben bekommen hast, Freundschaften aus unterschiedlichsten Breiten- und Längenkreisen zu kennen, sieh es nicht als Last oder Druck an, selbst, wenn du mal wieder in der Bahn oder im Auto sitzt und dir denkst, was das für ein Stress ist. Sei dankbar und dir bewusst, dass du sowohl für daheim als auch für daheim in der Heimat berufen bist. Eine bleibende Stadt haben wir auf Erden sowieso nicht (Hebräer 13,14). Und eines kann mir, und dann auch hoffentlich dir, keiner nehmen: Heimatgefühl pur spürbar und dankbar zu genießen. Hart, aber herzlich. Selbst für jemanden, der gerne tiefgehende, persönliche Gespräche unter vier Augen genießt.

Bei all den Pauschalisierungen könnte ich mir vorstellen, dass viele Menschen, egal ob von „daheim“ oder „daheim, daheim“, sich durch diese Zeilen aufregen könnten und mir meine Wortwahl irgendwann um die Ohren fliegt. Andere wiederum werden sich erfreuen, dass sie nicht die Einzigen sind, die zwischen den „Welten“ verschieden tickende Umfelder und Freundeskreise hegen und pflegen dürfen. Zum Abschluss noch eine Floskel, die wohl nirgends besser passen würde, als hier: Das eine schließt das andere niemals aus.

Was passiert zwischen Leben und Tod?

Neues Jahr, neues Konzept. So läuft das bei Alltagspropheten. Während sich sonst alles verändert, ist Veränderung für uns die einzige Konstante. Eines unserer neuen Formate, die ab jetzt monatlich erscheinen, nennt sich „HEARTCORE“. Darin wollen wir das teilen, was uns gerade auf dem Herzen liegt und was uns beschäftigt. Seien es persönliche oder gesellschaftspolitisch relevante Themen – oder alles dazwischen. Heute geht es los mit dem ersten Text von Lukas, in dem er sich fragt, was eigentlich zwischen Leben und Tod passiert.

Hast du schon mal darüber nachgedacht, wann genau das Leben endet? Das ist ja schon etwas merkwürdig. In einem Moment lebt man und im nächsten ist man tot? Was ist denn dazwischen passiert? Klar, irgendwann passiert alles zum letzten Mal. Der letzte Herzschlag, der letzte Atemzug, die letzte Hirnaktivität. Allerdings gibt es ja auch Menschen, die wiederbelebt werden. Die waren ja nicht richtig tot. Man spricht dann von Herz- und Atemstillstand. Wenn diese zu lange dauern, ist der Zug irgendwann abgefahren. Der Körper war zu lange unterversorgt und ist in dieser Zeit zu kaputt gegangen, um wieder richtig funktionieren zu können. Und irgendwo auf dieser Strecke muss man dann ja gestorben sein. Also liegt zwischen Leben und Tod wohl doch mehr als nur ein einziger Moment. Diese Zeitspanne verwirrt und fasziniert mich, weil man dort offensichtlich weder lebendig, noch tot ist. Was ist man dann?

Ich habe mich das schon öfter gefragt. Zuletzt gab es erneut Anlass dazu, weil ich zwei Menschen in dieser merkwürdigen Phase angetroffen habe. Im letzten Monat habe ich in der Notaufnahme gearbeitet. Dort kommen manchmal Menschen mit dem Krankenwagen an, während sie reanimiert werden. Wenn das Herz dann nicht wieder anfängt zu schlagen, hört man irgendwann auf zu reanimieren. Dann sagt man: Jetzt ist der Mensch tot. Vor zehn Sekunden war er es nicht, da wurde er reanimiert. Dabei hat sich der Mensch an sich gar nicht verändert. Man hat ja nur aufgehört ihn wiederzubeleben. Es kann auch passieren, dass ein Mensch zunächst erfolgreich reanimiert wird und das Herz wieder schlägt, aber die Pause lang genug war, um genug Schaden anzurichten, dass das Herz nicht mehr so richtig schlagen kann. Dann kann man sich im Ultraschall anschauen, wie das Herz noch so ein bisschen wackelt und zuckt, aber eben nicht pumpt. Es lebt, aber funktioniert nicht mehr. Etwas später macht es dann gar nichts mehr. Ist man erst dann tot? Oder früher oder später?

In der Notaufnahme kommen solche Situationen häufig vor. Nicht täglich, aber sie gehören zum Alltag. In dieser Viertelstunde passiert für mich und andere, die in der Notaufnahme arbeiten, nicht viel. Ein Patient kommt, wird reanimiert. Man überlegt, ob es Sinn ergibt, weiter zu reanimieren. Wenn nicht, hört man auf, geht aus dem Zimmer und vielleicht zurück zu seinem Computer oder zu einem anderen Patienten – es geht einfach weiter. Für den Patienten ist allerdings sehr viel passiert. Er ist gerade gestorben. Ein kleiner Schritt für mich, ein riesengroßer für ihn. Ich werde mich, wenn ich nach der Schicht gehe, sehr wahrscheinlich nicht mal an seinen Namen erinnern. Sein Leben ist aber heute zu Ende gegangen. Ein ganzes Menschenleben. Was er darin alles erlebt, gefühlt, getan, gesagt hat? Keine Ahnung. Ich habe halt nur seine letzten zehn Minuten mit ihm verbracht. Quantitativ gesehen verbindet mich mit ihm ungefähr so viel, wie mit einem Beamten im Bürgerbüro. Qualitativ gesehen, war ich dabei, als er den vielleicht größten Schritt seines Lebens getan hat – zu sterben. Und das finde ich so bizarr. Es fühlt sich verkehrt an, wenn das einzige, was ich mit einem Menschen teile, sein Übergang vom Leben zum Tod ist. Wenn ich sonst nichts weiß. Keinen Namen, keine Geschichte, einfach nix.

Im letzten Monat, etwa eine halbe Stunde nachdem ein Patient verstorben war, habe ich nochmal kurz ins Zimmer des Verstorbenen geguckt. Nachdem alle Leute aus dem Zimmer raus sind und woanders weiter arbeiten, ist es dort wieder etwas ruhiger. Das habe ich schon immer so gemacht, als ich im FSJ oder während meiner Praktika in der Klinik war. Einfach aus Interesse am Tod und um für mich selbst auch einen Abschluss zu finden. So ein kurzes: „Jo krass, der ist jetzt tatsächlich einfach tot.“ Manchmal braucht der Kopf eben ein bisschen, um zu verstehen, was er schon weiß. Die Menschen sehen kurz nachdem sie gestorben sind noch ziemlich genauso aus, wie kurz vor ihrem Tod. Erst nach einiger Zeit werden sie starr und die Hautfarbe ändert sich. Der gesetzte Todeszeitpunkt kommt mir dann oft sehr willkürlich vor und ich frage mich wieder: Was passiert zwischen Leben und Tod? Und weil ich an ewiges Leben glaube und daran, dass eines Tages alle auferstehen, frage ich mich, wie das dann funktionieren soll?

Manche glauben, dass die Seele beim Tod den Körper verlässt, oder dass die Seele unsterblich ist. Ich weiß nicht, wie ich mir das vorstellen soll. Insbesondere, wenn ich beim Sterben dabei war. Erst soll die Seele da gewesen sein. Dann gehe ich kurz eine halbe Stunde weg, komme wieder, schaue ins Zimmer und dann ist die Seele nicht mehr da? Irgendwie komisch. Sieht ja alles aus wie vorher. Oder sind die jetzt bei Gott? Wie kann das sein? Sie sind ja hier und liegen vor mir im Zimmer. Dann können sie ja nur teilweise bei Gott sein, oder eben nur ihre Seele, was auch immer das sein mag und wie auch immer das gehen soll. Das kommt mir so ein bisschen vor, wie ein Upload in eine himmlische Cloud oder so etwas, wo der Mensch seines Körpers und Geistes beraubt irgendwie gespeichert wird. Das finde ich merkwürdig. Daran glaube ich auch nicht. 

Wenn ich Bibel lese, kommt es mir eher so vor, als würde es einen Ort geben, wo die Toten sind. Ganz – also nicht nur die Seelen. Ein Totenreich oder etwas in der Art. Dort sind sie dann wohl doch mehr lebendig als tot und warten, dass Jesus wiederkommt, Gericht hält und Gott dann alles neu schafft. Aber dann frage ich mich wieder, wenn ich ins Zimmer des Toten schaue: Ist er jetzt im Totenreich? Und wenn ja, wie? Man kann sich über diese Fragen abends bei einem Glas Wein in philosophischen Sphären unterhalten und diskutieren. Am Ende sagt dann womöglich jemand in demütiger Weisheit, die mich nicht zufrieden stellt: „Ach, das ist einfach jenseits unserer Vorstellung – Totenreich, Himmel, Unsterblichkeit – das übersteigt unseren Verstand.“ Wenn man dann im Zimmer des Toten steht, ist die Situation so greifbar und real, dass die philosophischen Sphären einfach realitätsfern und viel zu weit weg wirken. Praxisferne Theorie – so scheint es mir. Ich will nicht sagen, dass es unsinnig ist, etwas über Dinge zu sagen, die über das Leben und unseren Verstand hinausgehen. Aber immer, wenn ich Tote sehe, finde ich das komplett verwirrend, beinahe mystisch. Ich habe dann manchmal so ein Derealisationsgefühl, als wäre alles nicht ganz echt, irgendwie surreal. Ich vermute, dass ich mich noch einige Male im Leben in dieser Situation befinden werde. Das ist so als Arzt. Statistisch gesehen, werde ich auch noch einige tote Menschen sehen, die mir sehr nahe stehen, zum Beispiel Familienangehörige. Ob sich dann wohl etwas verändert in meiner Wahrnehmung? Wird man mit der Zeit routinierter in der Begegnung mit Toten? Oder wird es immer so skurril und mystisch bleiben? Was passiert mit uns zwischen Leben und Tod? Wo gehen wir hin und wie wird es da sein? 

Was denkst du? Hast du schon mal Zeit mit jemandem verbracht, der tot ist? Teile gerne mit uns, wie du das erlebt hast.

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