Das große WWW oder auch: Hätte, hätte, Fahrradkette



Maike. 16. Schülerin. Mag es, viel von dem um die Ohren zu haben, was sie liebt: Musik, Fahrradfahren, Gemeinde, Verantwortung, viel intensive Zeit mit wenigen Menschen. Auf dem Fahrrad mitten in Bielefeld denkt sie viel nach, betet und ordnet Gedanken.

Ich sitze auf meinem Fahrrad und rase mal wieder nach Hause. Auf dieser Straße geht das gut, es geht eigentlich nur bergab. Häuser fliegen vorbei, Menschen, Autos. Es ist Nachmittag, an manchen Tagen auch schon Abend. Alles ist ein bisschen verschwommen, ich bin kaputt, aber voll mit neuen und alten Sinneseindrücken. Das, bloß diese paar Minuten nicht Reden, generell kaum Kommunizieren, nur Fahren, ja, genau das ist die Zeit, in der ich meistens ins Nachdenken komme: über Gott und die Welt und beides in Kombination. Aber meistens dreht sich alles nur um das große WWW. Nein, nicht das allgegenwärtige Internet, sondern um den Konjunktiv: Was wäre wenn?

In allen meinen Gedankenreisen spielt es immer die Hauptrolle, schafft Visionen und Träume, aber verdrängt das Handeln und damit die Realität. Im zweiten dieser Fälle nenne ich das große WWW dann auch gerne mal „hätte, hätte, Fahrradkette“.

Oft geht es um die Dinge, mit denen ich anfangen will: endlich mal mit dem Führerschein beginnen, den Schülerbibelkreis revolutionieren, meine Gebetswand erstellen, ab heute anfangen, meine Instrumente zu üben. Das sind nur ein paar kleine Beispiele, trotzdem sind mir all diese Dinge wichtig und ich will mich so gerne mehr damit beschäftigen, aber sobald ich mein Fahrrad in die Garage schiebe, scheinen sie mir unendlich weit weg und kaum zu erreichen.

Vielleicht liegt das daran, dass ich bereits mit den Sachen ausgelastet bin, die ich in der Realität schaffe. Das ist okay, ein realistischer Blick auf meine Kapazitäten reicht da ja schon, ich muss es dann nur checken und das, was ich noch vorhabe, erstmal auf Eis legen und später nochmal hervorholen. Vielleicht ist die Masse dieser Vorhaben aber auch so groß, dass ich überwältigt und machtlos davor stehe und aus purer Versagensangst einfach mit keinem davon anfange. Was, wenn es nicht so klappt, wie ich das gerne haben will? Was sagen überhaupt die Menschen dazu, die mir wichtig sind? Alleine schaffe ich das sowieso nicht. Ach, das wird überhaupt nicht funktionieren. Eigentlich ist doch alles gut, so wie es ist.

Habt ihr‘s gemerkt? Aus dem visionären ist ein ängstliches, ein zweifelndes WWW geworden. Überlegungen, die hemmen, Angst machen, Sorgen bereiten. Da hat man schon Träume, freut sich auf Kommendes oder denkt sich einfach nichts dabei und dann kommt sowas. Eine bittere Ahnung, irgendwas könnte schiefgehen. Sei sie unbegründet oder nicht, sie hindert uns daran, mutige Entscheidungen zu treffen. Bevor man irgendwo anecken oder sogar scheitern könnte, fängt man erst gar nicht an – eigentlich eine total unbegründete und dumme Reaktion auf die eigene Kreativität, die eigenen Ideen, und dennoch beobachte ich dieses Vorgehen bei vielen, vielen Menschen – nicht zuletzt bei mir. Erstmal prinzipiell nein sagen, Dinge anderen überlassen, es sich bequem machen. Aber Visionen sind nie bequem. Und hinterher, wenn man so eine tolle Idee hatte und hin und her überlegt hat, ob man ihr nachgehen soll oder nicht, es dann aber doch nicht gemacht hat, weil es so furchtbar anstrengend gewesen wäre, dieses eine Mal mutig zu sein, denkt man sich oft: Hätte ich doch einfach mal gemacht. Und genau da sind wir bei „hätte, hätte, Fahrradkette“.

Der ehemalige Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat es 2013 in einem Interview mit der ARD deutlich gemacht: Es bringt nichts, sich Entscheidungen, die dumm gelaufen sind, mit einem anderen Ausgang auszumalen, nur um sich später noch schlechter zu fühlen – das meint er nämlich mit „hätte, hätte, Fahrradkette“. Die Vergangenheit ist, wie sie ist, man kann eben nichts dran ändern. Besonders wichtig ist diese Erkenntnis bei Schuldfragen. Das wurde mir schmerzhaft klar vor Augen geführt, als sich ein Mitglied meiner Familie vor zwei Jahren das Leben nahm. Als ich da Sätze wie: „Hätte ich mal lieber dies und jenes gemacht…“ oder „Wäre ich an dem Tag anders drauf gewesen, dann wäre vielleicht alles anders gekommen…“ gehört habe, wäre ich jedes Mal am liebsten ausgetickt. Denn man hätte es nicht vorhersehen können und sich selbst mit solchen Überlegungen zu quälen, macht einfach nur unglücklich. Und das ist es auch, was „hätte, hätte, Fahrradkette“ aussagt: Gedanken, die niemals etwas bewirken werden, machen unglücklich, weil sie dich aus der Realität ins (Alb-)Traumdenken entführen. Das Leben ist JETZT und besteht nicht nur aus Erinnerungen an gestern und Träumen über morgen. Natürlich, aus den einen wirst du schlau und lernst, bestenfalls, aus deinen Fehlern und auf die anderen arbeitest du hin und freust dich darauf, aber das alles trifft sich im JETZT.

Das hört sich zwar nach diesen kitschigen Statusspruch-Sammlungen an, von wegen „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“, ist aber in der Wirklichkeit verdammt schwer. Anstatt immer mehr Visionen zu träumen, einfach mal die erste davon leben, nicht in Erinnerungen und Schuldgefühlen der Vergangenheit versinken, sondern mutig aus den tollen Geschichten profitieren und aus den miesen Stories lernen – und das neu Gelernte dann aber auch umsetzen. Die Sorgen immer auf ihre Notwendigkeit prüfen und die meisten dann einfach wieder vergessen, weil sie völlig unbegründet sind. Und wenn man dann mit dem ersten Vorhaben angefangen hat und das zweite verworfen hat, weil man nochmal reflektiert und realistisch darauf geschaut hat, dann kann man mit dem dritten anfangen. Und dem vierten. Und dem fünften.


Danke an Tiffany Nutt für das Foto auf Unsplash.


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