Das Schamekel

Ich sitze hier. Das herrlich warme, blubbernde Wasser umspült samtweich meinen ganzen Körper und schaukelt mich sanft hin und her. Jedes Ausatmen wird zur ultimativen Befreiung, weil der leichte Wasserdruck auf meiner Lunge die ganze Arbeit übernimmt. Nach dem Atemweg-befreienden Dampfbad strömt die Luft wie von selbst durch mich hindurch. Der Nachgeschmack vom Cappuccino, den ich mir eben gegönnt habe, beflügelt meine Geschmacksnerven. Ich könnte mir noch einen bestellen, hier direkt in den Whirlpool – das machen die sogar, außerdem ist es sowieso All-inclusive. Aber ich trinke, glaub ich, lieber einen Espresso zum Nachtisch nach dem fünf-gängigen Abendessen und ein Glas auserlesenen Rotwein.

Ein knappes Jahr zuvor…

Ich sitze hier – nein, eher etwas zwischen Stehen und Sitzen – auf meinem gefrorenen Fahrradsattel. Es ist eiskalt! Ich komme vom Männergebet. Es ist Freitag. 9:00 Uhr morgens. Ich hetze aus der Altstadt in die Uni, um einigermaßen pünktlich zu kommen. Die Kälte macht mir Kopfschmerzen. Helm und Kopfsteinpflaster machen es nicht besser. Tausend Gedanken schießen durch meinen Kopf: Eindrücke vom Gebet, Gott, das Leben, die Menschen, was muss ich heute alles machen? Ich knalle die schmale Gasse zum Fluss runter. Das Kopfsteinpflaster rüttelt an mir und meinem Fahrrad und bringt das Bild zum Flackern. Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Ich sehe jemanden mit Mantel in ein Geschäft in der Gasse huschen – davor ein fettes, blitzendes, schwarzes Auto. BMW X6 oder Audi Q5 oder VW Touareg oder Porsche Cayenne – keine Ahnung, etwas von dieser Sorte. Der Mensch mit Mantel war wohl dort ausgestiegen, um kurz in das Geschäft zu springen. Eine schäbig gekleidete Frau, vielleicht obdachlos, geht zu dem teuren Auto. Kopfsteinpflaster – alles wackelt. Was macht die da? Misstrauen. Was passiert hier? Die Frau zieht ihre Hände unter ihrem Schal-Decke-Mantel hervor und geht ganz nah an das Auto heran. Sie bewegt ihre geradeso sichtbaren, von Kälte, Frost und Dreck gezeichneten Hände über die blitzende Motorhaube bis sie schließlich kurz vor der Windschutzscheibe verharrt. Ich brettere vorbei, höre nur mein klapperndes Fahrrad und die Lüftung des dicken Autos, rolle rüttelnd und ratternd weiter.

Das verträumte Gedanken-Chaos ist auf ein Mal wie weg gepustet. Die Welt steht still. Es gibt nur noch diese eine Frage: was war hier gerade passiert? Ich muss es in Gedanken buchstabieren, weil es so bizarr ist. Die schäbig gekleidete Frau aus der Gasse war zu dem fetten, schwarzen Auto gegangen, um für diesen einen, kurzen Moment ihre Hände an der aufsteigenden Restwärme des Motors zu wärmen. Bevor ich überhaupt glauben kann, wovon ich gerade Zeuge geworden war, springt es mir an die Kehle und krallt sich fest. Es steckt mir einen Kloß in den Hals, es schnürt mir den Brustkorb zu, es wringt meinen Magen aus, es saugt die Energie aus mir raus; dieses kleine, schmierig-stinkende Monster, das ich schon so lange kenne: das Schamekel. Es tanzt und kreischt und keift in mir. Ich empfinde brennende Wut auf den Mensch mit Mantel im Laden, weil ihm das Auto gehört; herzzerreißendes Mitleid mit der Frau; auftürmende Machtlosigkeit, weil ich nur zuschauen kann. Das Schamekel sammelt das alles ein und formt daraus einen verzerrten Spiegel, den es mir unbarmherzig und höhnisch vor das Gesicht hält. Ich sehe mich, einer von den Reichen, einer aus dem Team Mensch mit Mantel und Auto. Ich schäme mich in Grund und Boden und würde gerne betroffen runterschauen, aber das Schamekel presst mein Gesicht an den Spiegel – ich kann mich nicht bewegen. Mit jeder Sekunde, die ich mich im Spiegel anschaue, steigt der Ekel vor mir selbst und dem ganzen Reichtum in dieser Welt in mir auf. Sollte ich nicht dankbar sein, dass ich zu den Reichen gehöre? Ich schäme mich, weil ich so undankbar bin. Ich schaue in den Spiegel und mir wird übel vor Ekel. Ich glaube, ich zittere. Das kleine Monster hatte es mal wieder geschafft!

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Das Schamekel steigt zu mir in den Whirlpool, ich grüße verkrampft und heiße es willkommen. Ich weiß, was jetzt passiert. Statt entspannt auszuatmen, bekomme ich kaum Luft. Statt warmen Wasser, das mich umspült, kriechen schaurig kalte Luftblasen an mir hoch, das herrliche Kaffeearoma schmeckt ranzig und bei dem Gedanken an ein fünf-gängiges Abendessen wird mir schlecht. Jetzt bin ich dankbar. Dankbar, dass die schäbig-gekleidete Frau mich jetzt nicht sehen kann und diesen ekelhaften Reichtum jenseits all ihrer Vorstellungen bemerkt. Sie hat mich gebrandmarkt, gebrandmarkt mit Erinnerung, obwohl sie mich wahrscheinlich gar nicht gesehen hat. Ich ziehe die Notbremse, stehe auf, gehe zur Dusche und wasche mir das vor Luxus stinkende Wasser vom Leib. Ich kann es einfach nicht genießen, es geht nicht. Das konnte ich noch nie so richtig.

Über die Zeit sind das Schamekel und ich Freunde geworden. Wir kennen uns einfach schon seit so vielen Jahren und teilen so viele gemeinsame Momente:

Papa, der mich mit dem Porsche irgendwo abholt und ich in die Augen meiner Freunde schaue, während ich einsteige. Sie blitzen mich an mit einer Mischung aus Bewunderung für etwas, das mir nicht zusteht und Neid auf etwas, das ich selbst gar nicht will.

Skiurlaube mit meiner Familie, die ich so liebe, aber das Schamekel habe ich immer dabei.

Ein Geldgeschenk für ein alternatives Fahrrad, das ich mir schon länger kaufen will, aber im letzten Moment einen Rückzieher mache, weil ich es eigentlich nicht brauche und mir stattdessen Bücher fürs Studium kaufe, die ich sowieso gekauft hätte.

Mama, die fragt, ob ich das feinste Lammfilet mit Papas bester Rotweinsauce zu Weihnachten essen möchte – mein Lieblingsessen. Jedes Mal wieder ein innerer Kampf zwischen Dankbarkeit, Vorfreude, Schuld und Scham – ich mag ja auch Nudeln mit Tomatensauce.

Nicht zuletzt eine Hochzeit, für die ich tausende Euro für Genuss, riesige Freude, geliebte Frau, Freunde, Familie und schönste Erinnerungen investiere. Statt einer hübschen Blume habe ich aber mein Schamekel in die Anzugtasche gesteckt. Diese Liste könnte ich lange fortführen.

Auf der einen Seite tue ich damit ganz vielen Menschen und Gott Unrecht mit meiner Undankbarkeit und mit der Unfähigkeit, Wohlstand als Segen anzunehmen und zu genießen. Das tut mir unendlich Leid. Ich kann nicht anders. Auf der anderen Seite erinnert mich das Schamekel immer wieder an alle, denen es nicht so gut geht wie mir. Es konfrontiert mich mit der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit in der Welt, damit sie niemals aufhören an mir zu nagen. Es bewahrt mich vor Gleichgültigkeit und hilft mir, Menschen in Armut und Leid mit liebevollen Augen anzuschauen. Es zeigt mir meine Machtlosigkeit und treibt mich in Gottes offene Arme, damit lerne, ihm zu vertrauen. Denn ihm stehen Wege offen, die ich weder sehen, noch gehen kann. Ich versuche nur einen verschwindend kleinen Beitrag dazu zu leisten: ich bete, ich spende. Ich glaube, Gott hat mir das Schamekel geschickt, damit ich ein Hauch der Vorstellung erhalte, wie er sich fühlt, wenn er allmächtig, allwissend und voller Liebe für die Welt die Ungerechtigkeit, den Schmerz und das Leid in der Welt erträgt. Damit kriegt er mich immer wieder. Wenn ich mich dann angeekelt von meinem Luxus in einem verzerrten Spiegel sehen muss und mich schäme, weiß ich sicher, dass er mich sieht, kennt und trotzdem liebt. Das ist eine Erfahrung, die mir zu einem unerklärlichen Geheimnis des Glaubens geworden ist. Und Stück für Stück lerne ich eine unendlich teure Tugend, wenn ich an Gottes Hand die Ungerechtigkeit der Welt betrachte: Demut

Ich danke dem SchamEkel, ein wahrer Demuts-Engel mit fragwürdigen Unterrichtsmethoden und ein treuer Begleiter.

„Ich bemühte mich, die Weisheit kennenzulernen und das Tun und Treiben auf dieser Welt zu verstehen. Doch ich musste einsehen: Was Gott tut und auf der Welt geschehen lässt, kann der Mensch nicht vollständig begreifen, selbst wenn er sich Tag und Nacht keinen Schlaf gönnt. So sehr er sich auch anstrengt, alles zu erforschen, er wird es nicht ergründen! Und wenn ein weiser Mensch behauptet, er könne das alles verstehen, dann irrt er sich!“

(Prediger 8,16-17 nach Hoffnung für Alle)

Lukas

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Ein Gedanke zu „Das Schamekel

  1. … deshalb hat Jesus alles ertragen und ausgehalten und uns auch noch gezeigt wie und was wir beten sollen, damit wir ganz nah bei Gott sein können:
    … gib uns unser tägliches Brot und vergib uns unsere Schuld. Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
    Damit schickt uns Jesus ins Leben und lässt uns das „simul iustus et peccator“ das über unserem Leben steht, aushalten um nicht zu verzweifeln.
    Papa

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