Dezember-Streik

Ich bin Antje, Baujahr 68, verheiratet, Mutter von 2 erwachsenen Söhnen und Konrektorin an einer großen Rosenheimer Grundschule. Seit meiner Kindheit ist Kirche für mich ein wichtiger Lebensort, an dem ich mich gerne beteilige: u.a. als Mitgestalterin von Gottesdiensten, Mitglied des Blockflötenensembles oder Lektorin. In meiner Freizeit stricke, schreibe, wandere und lese ich am liebsten.


Morgens 7 Uhr 17 in Deutschland: Klirrende Kälte. Die Sonne legt einen
üppigen, pastellfarbenreichen Auftritt über einer winterweißen Raureiflandschaft hin, während sie allmählich hinter den Bergen aufgeht. Glitzernde Schneekristalle gleichen tausend Diamanten am Brückengeländer im Lichtstrahl meiner Autoscheinwerfer. Doch plötzlich wird meine Fahrt jäh gestoppt. Ein Menschenzug bewegt sich langsam über die Kreuzung vor mir. Die Teilnehmenden tragen Schilder bei sich. „Stoppt den Wahnsinn!“, lese ich auf dem einen. „Nieder mit der Hektik!“, auf einem anderen. Besonders erregt ein Schwarzer Zeitgenosse meine Aufmerksamkeit. Er wirkt königlich und könnte einem Märchen aus 1001
Nacht entstiegen sein. Lautstark skandiert er: „Macht euch bereit!“

Ungeduldig schaue ich auf die Uhr. Allmählich habe ich es echt eilig.
„Muss das wirklich sein? Eine Demonstration mitten im Berufsverkehr?“,
seufze ich, „Klimaaktivisten sind das keine. Falscher Tag und Uhrzeit.“
Etwas Unruhe kommt auf, als ein Junge in Felljacke das Schaf neckt,
das zwischen seinem Vater und ihm trottet. Es springt erschrocken zur
Seite und stößt gegen einen Esel, der vor Schreck durchgeht. Die
schwangere Frau darauf kann gerade noch einen Sturz verhindern, denn
ihr Mann bekommt das Tier rasch wieder unter Kontrolle. Er ist wesentlich älter als sie. Nun bückt er sich, hebt sein Schild auf, das ihm vor
lauter Aufregung aus der Hand gefallen war: „Heute schon den Nächsten geliebt?“ steht in Großbuchstaben darauf.

Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: „Das ist die ganze Heilige
Familie, und sie streikt. Wahnsinn!“, denke ich, „aber irgendwie auch
konsequent. An ihrer Stelle wäre ich auch überhaupt nicht damit
einverstanden, dass diese zentrale Geschichte der Christenheit nur noch
rein kommerziell vermarktet wird.“ Ich seufze. Und plötzlich weiß ich,
was ich tun werde. Ich steuere den nächstbesten Parkplatz an und
mische mich unter die Demonstrierenden. Ich möchte reden. Zuerst lasse
ich mich treiben und studiere die Gesichter der fremden Menschen.
Irgendwie wirken sie alle sehr vertraut auf mich. Schließlich spreche ich
meine Nachbarin an, eine Gastwirtin, die alles liegen und stehen
gelassen hat, wie sie mir sagt, denn das hier mache Sinn, betont sie.

„Dieses Kind, das damals geboren wurde, setzte sich für die
Menschlichkeit als zentralen Wert ein. Und wie ist das heute? Menschen
werden hierzulande ungleich behandelt und sind gefangen in schlechten
Lebensumständen. Alle denken zuerst an sich, die eigene Familie, das
eigene Volk. Schrecklich! Hier und jetzt muss eine Veränderung her!“.
Stumm lausche ich dem Wortschwall der Frau. Dann wage ich den
Einwand: „Aber mir bedeutet Weihnachten viel. Wenn es ausfiele, und
danach sähe das hier aus, das wäre schrecklich!“
„Pah!“, lautet ihre Antwort, „lieber ein Ende mit Schrecken, als ein
Schrecken ohne Ende. Wir fordern eine Entscheidung von der Erde. Und
zwar sofort!“
Ich antworte lahm: „Aber könnte Gott das nicht selbst regeln? Er
könnte ein öffentliches Strafgericht halten. Er könnte nochmal eine
Sintflut schicken. Er könnte…“
„Papperlapapp“, antwortet die Frau, „jetzt sind die Menschen am Zug.
Entweder sie haben eine gute Idee, oder wir lassen unsere Arbeit für
immer ruhen.“
„Aber ich wünsche mir aus tiefster Seele, dass es auch dieses Jahr
Weihnachten wird, und so wie mir geht es vielen.“
„Wie viele sind das?“, kontert die Frau hämisch, „1000, 10 000 von
inzwischen mehreren Milliarden Menschen?“
„Nein. Ich allein kenne mindestens 100. Da müssen es weltweit viel
mehr als 10 000 sein!“, platzt es aus mir heraus.
„Beweis es mir! Kannst du das?“
„Ja.“, sage ich fest, „ich schreibe über eure Demonstration. Der Text
wird Leser finden. Nehmt ihr dann eure Arbeit wieder auf, damit es auch
heuer Weihnachten werden kann? Wäre das ein Vorschlag?“
Nach einer kurzen Rücksprache willigt die heilige Familie in den Deal
ein. Und DU bist nun ein(e) Retter(in) des Weihnachtsfests, weil du
diesen Text kennst.


Photo by Markus Spiske on Unsplash

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