Die Kunst des Erwartens

In meinem letzten Beitrag habe ich euch auf eine kleine Gedankenreise mitgenommen, die mich sehr ins Grübeln gebracht hat. Die Frage, die das Erlebte in mir ausgelöst hat, war folgende: Warum habe ich krampfhaft versucht, den Erwartungen eines Fremden zu entsprechen?

Erwartung. Laut dem Duden ist das zunächst ein Zustand des Wartens beziehungsweise der Spannung. In zweiter Hinsicht kann damit eine vorausschauende Vermutung, Annahme oder Hoffnung gemeint sein. Erwartungen sind also eindeutig in die Zukunft gerichtet und je nach persönlichem Kontext positiv oder negativ besetzt. Letzteres trifft für mich auf den ersten Teil der Definition zu, ersteres auf den zweiten Teil. Wenn ich mir diese Definition so anschaue, muss ich mir eingestehen, dass ich diesen Zustand der Spannung mehrmals am Tag erlebe. In vielen verschiedenen Situationen mit vielen verschiedenen Facetten.

Genau genommen ziehen sich Erwartungen durch das ganze Leben. Man wächst damit auf, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, indem man ihnen gehorcht. Die Geschwister haben Erwartungen, dass man mit ihnen spielt. Bei Freunden ist es ähnlich. In der Schule besteht die Erwartung, gute Leistungen zu bringen. Genauso im Sportverein oder auf der Arbeit. Das Grundgesetz existiert aus der Erwartung heraus, dass man sich daran hält. Die Verkehrsregeln bestehen aus demselben Grund. Erwartungen über Erwartungen.

Doch das ist keine einspurige Autobahn, sondern ein bipolares Konstrukt. Genauso, wie andere Menschen an mich Erwartungen haben, so habe ich Erwartungen an andere Menschen. Ich erwarte, dass meine Eltern mich versorgen. Mit meinen Geschwistern will ich genauso Zeit verbringen. Ebenso mit Freunden. In der Schule habe ich die Erwartung, eine gute Bildung und guten Unterricht zu erfahren. Der Sportverein bietet mir den nötigen Ausgleich, die Arbeit Geld. Grundgesetz und Verkehrsregeln sollen mich schützen.

Ich finde es in der deutschen Sprache immer wieder beeindruckend, wie sich die Bedeutung von einzelnen Wörtern ändert, sobald man es in seine Einzelteile zerlegt. Im Begriff „Erwartung“ stecken „Warten“ und „Er“. Im Zentrum steht also das Warten, jedoch nicht nur. Ich erwarte etwas beziehungsweise jemand, oder etwas beziehungsweise jemand erwartet mich. Das kann sowohl einseitig als auch gegenseitig sein.

Warten hat in unserer heutigen Zeit keine allzu positive Bedeutung mehr. Warten ist Zeitverschwendung. Das Problem mit dem Erwarten ist, dass man auf das Ergebnis einer Situation wartet, von der man sich schon einen bestimmten Ausgang wünscht, ihn gar erwartet. Je nach Situation ist das Erwarten in seiner Ausprägung vielschichtig. Manchmal lockerer, manchmal druckvoller. Gelegentlich etwas liebevoller, ein anderes Mal fordernder. Letztendlich hat jedes Lebewesen Erwartungen an irgendetwas. Katzen wollen gefüttert, Hunde spazieren gegangen und Blumen gegossen werden.

Es ist also natürlich und gehört zum Leben dazu. Wie bei vielem sind nicht grundsätzlich die Erwartungen das Problem, sondern wie man damit umgeht. Ich denke, dass das Problem darin liegt, davon auszugehen, dass meine Erwartungen eintreffen, obwohl ich darauf meist keinen Einfluss habe. Manchmal rechne ich so zwangsläufig damit, dass ich am Ende nur enttäuscht sein kann. Eine Erwartung ist und bleibt immernoch eine Hoffnung. Darin wohnt kein Determinismus inne. Unsere Erwartungen müssen nicht zwangsläufig geschehen, aber sie können.

Die Gedankenreise hat mir gezeigt, dass ich den Zustand der Spannung, wenn jemand anderes etwas von mir erwartet, vielleicht sehr intensiv erlebe. Es war für mich ein kleines und beiläufiges, wenn auch sehr eindrückliches Erlebnis. Was mir letztendlich davon hängen bleibt, ist der Wunsch, entspannter mit Erwartungen umzugehen. Also mehr Warten und weniger Spannung. Denn davon gibt es im Leben genug!

by spaghettihirn

Das Foto kommt von JESHOOTS.COM auf Unsplash.

Kommentar verfassen