Sie war knapp über zwanzig. So alt wie ich jetzt. Sie war bereit. Sie war sich ganz sicher. Ab jetzt. Bis zum Tod. Für immer.
Ich sitze in einem Stuhlkreis. Etwa zehn junge Menschen sind mit dabei. Alle hören gespannt zu. Die Frau, die redet, passt visuell nicht ganz ins Bild. Sie ist etwas älter. Und auch sonst ist sie – sagen wir mal – traditionell gekleidet. Während sie so erzählt, dreht sie ihren Ring hin und her. Ein Ring, der sie an etwas erinnert. An ein Versprechen. Für immer.
Sichtlich bewegt, sitzen wir da. Frage-Runde. Die Frau hört ruhig zu. Nickt ab und zu. Erklärt. Antwortet. Ihre Hände liegen dabei gefaltet auf ihrem Schoß. Ab und zu gestikuliert sie.
Warum hast du dich dazu entschieden? Warum so früh? Warum so jung? War das nicht eine krasse Entscheidung? Kein Weg zurück? Für immer?
Sie war sich sicher, dass das die richtige Entscheidung war. Gott hat es ihr oft klar deutlich gemacht. Ihr Vater wusste schon bei ihrer Geburt, dass sie das tun würde. Sie soll für Gott leben. Ihm ihr ganzes Leben geben. Schwester werden. Nonne. Für immer!
Wie kann sie sich da so sicher sein? Ein Leben ohne Familie? Ohne Kinder? Was, wenn einmal ein Mann kommt, den sie mag? In den sie sich verliebt?
Es sind zwei Generationen, zwei Mindsets, zwei verschiedene Lebenswelten, die hier aufeinander stoßen. Ein sehr faszinierendes Gespräch. Was bei mir vor allem hängen geblieben ist, war folgender Satz: “Ich habe das Gefühl, eurer Generation fällt es richtig schwer Entscheidungen zu treffen. Sich festzulegen. Ohne ein zurück. Für immer.“
Stimmt das wirklich? Oder ist das so ein typisches ’Früher war alles besser’ Zitat? Doch wenn ich genau darüber nachdenke, merke ich, dass sie da gar nicht so Unrecht haben könnte.
So viele Entscheidungen muss ich Tag für Tag zu treffen. Früher haben das meine Eltern für mich gemacht. Oder meine Lehrer. Was soll ich anziehen? Darf ich etwas mit meinem besten Freund ausmachen? Was soll ich lernen? Was ist gut? Was ist schlecht? Jetzt kann ich das selber tun. Freiheit. Aber entscheide ich mich wirklich immer definitiv? Oder hänge ich der alternativen Variante immer ein bisschen hinterher.
In unserer Welt wechselt alles super schnell. Das Handy, das gestern noch jeder haben wollte, liegt heute unbenutzt in der Schublade. Der Song, der gestern noch ein top Hit war, hängt heute jedem aus’m Hals heraus. Der Politiker, der gestern noch eine herzergreifende Rede hielt, tritt heute wieder von seiner Aussage zurück. Der Arbeiter, der gestern noch händeringend gesucht wurde, ist heute von einer Maschine ersetzt worden. Immer wieder Veränderung. Nichts, was hält.
Genau diese Schnelllebigkeit und diese rasanten Veränderungen haben zur Folge: Ich kann mich nicht mehr festlegen. Es könnte sich ja noch etwas ändern.
Ich erkenne ein gewisses Muster, das sich durch mehrere meiner Lebensbereiche durchzieht:
„Bei der Berufswahl probiere ich mal dies, mal das. Wenn mein Studium doch nicht das richtige ist, wechsle ich nächstes Semester halt. Oder ich jobbe. Oder wie wäre es mit einer Ausbildung?“
So die Mentalität unserer Generation. Das muss nichts Schlechtes sein.
Es stehen mir alle Türen offen. Alles ist immer möglich. Bloß nicht festlegen.
“Ich liebe meine Freundin. Aber heiraten? Das ist doch voll der krasse Schritt! Ich bin noch so jung! Was, wenn mir eine bessere über den Weg läuft? Was, wenn sie doch nicht mehr gut genug ist?“
Natürlich solle man sich nicht einfach so unbedacht in eine Ehe stürzen. Aber überspitzt wäre das auch ein Beispiel für dieses Phänomen.
Es stehen mir alle Türen offen. Alles ist immer möglich. Bloß nicht festlegen.
Marc-Uwe Kling hat das in seinem Buch “Die Känguru Offenbarung” ziemlich gut auf den Punkt gebracht. In einem Kapitel sitzen das Känguru und Marc-Uwe im Starbucks und entdecken auf ihren Bechern Zitate. Zitate, die teilweise ziemlich kontrovers sind. Starbucks hat sich also eine pfiffige Lösung überlegt, damit ihnen niemand etwas anhängen kann. Auf jedem Becher steht daher ein Haftungsausschluss, mit dem sich das Unternehmen aus der Affäre zieht. Das Känguru regt sich tierisch darüber auf und sagt:
Weißt du, was passiert, wenn man sich immer alle Türen offen hält? Dann zieht’s, mein Freund! Davon wird man krank. Diese verblödete Wischiwaschi-Kultur. Die Welt ist echt voll von Arschlöchern, rechtlich abgesicherten Arschlöchern!
Marc-Uwe Kling in „Die Känguru-Offenbarung“, Seite 227 ff.
Eine Situation, die sich sehr gut übertragen lässt. Wir versuchen uns immer alle Türen offenzuhalten, um immer noch die Chance zu haben, unsere Meinung zu ändern. Doch das führt dazu, dass wir nie genau wissen, woran wir sind. Ist das jetzt wirklich der richtige Job? Ist es meinem Partner wirklich ernst? Oder bin ich weg, sobald der nächstbessere Typ vorbeikommt? Wischiwaschi. Keine Statements. Nur vage Vermutungen.
Die Schwester, mit der ich gesprochen habe, hat etwas gewagt. Eine Entscheidung, die ihr sicher nicht leicht gefallen ist. Sie ist Nonne geworden. Ist heute eine der wenigen jüngeren Schwestern in ihrem Orden. Aber für Sie war es die beste Entscheidung ihres Lebens. So viel hat sie erlebt und gesehen in ihrem Leben. Etwas, das sie ohne ihr klares, deutliches Ja niemals erlebt hätte. Ein Ja ohne Sternchen, Haftungsausschluss oder kleingedrucktes. Kein Weg zurück. Schwester. Für Immer.
Wie kann ich es schaffen auch ein solches Commitment zu machen? Kann ich mich entscheiden? Entscheidungen, die nicht für den Moment sind, sondern definitiv. Für immer?
Text: Philipp Jenny
Foto: Philipp Jenny