Passend zum neuen Jahr haben auch wir uns etwas Neues vorgenommen. Ab heute veröffentlichen wir an jedem zweiten Montag im Monat einen Gastbeitrag auf unserem Blog. Darin schreiben verschiedene Gastautorinnen und Gastautoren über Themen, die sie beschäftigen.

Den Beginn macht heute Gudrun R. 77 Jahre. Großtante von Lukas. Gerne Großmutter. Deutschlehrerin mit Leidenschaft. Single. Freiburg. Liebe zur Literatur. Lernt italienisch. Nachdenken über das Altsein und Altsein-Verstehen. Sie hat eine Kurzgeschichte von einer Frau namens Tile geschrieben.
Tile wacht auf. Aus einem dieser Kinoträume, die immer wieder in einer merkwürdig bekannten Situation einsetzen, sich eine Weile lang durchspielen, abbrechen und wieder neu beginnen. Tile ist verwirrt. Sie schaut nach dem Wecker und versucht, sich zu orientieren. Im Traum war sie Lehrerin in einer unglaublichen Klasse. Mindestens sechsmal hat sie das Tohuwabohu auf die eine oder andere Art zu meistern versucht. Immer brach es ab oder sie wachte auf, als es ganz schrecklich wurde, oder als sie meinte: „Jetzt ist es geschafft!“. Und dann fing alles wieder von vorne an. Der Wecker zeigt auf halb sieben, die übliche Zeit, um den Tag zu beginnen. Tile lässt die letzten Traumbilder an sich vorbeiziehen. „Ich bin nicht mehr Lehrerin“, denkt sie. Die Schule ist seit Jahren Vergangenheit.
Gestern hat sie von ihren eigenen Kindern geträumt. Da mischten sich Erinnerungen aus ihrer Mutter- und Familienzeit mit aktuellen Erlebnissen mit den Enkeln. Und Tile hat sich in verrückten Sequenzen damit abgekämpft, eine gute Mutter zu sein, Ordnung zu schaffen und liebevoll Grenzen zu setzen. Im Aufwachen wurde ihr dann klar: „Es hat sich ausgemuttert für dich. Deine Tochter ist 45 und du hast keine Verantwortung für sie, auch nicht für deine Enkel.“ Dieses Sich-Anstrengen und Kämpfen, um das Leben der Kinder in gute Bahnen zu lenken, ist heute Unsinn, kann nur schaden.
Tile weiß, dass sie kluge Träume hat. Wenn sie im Wachwerden den letzten Traumfetzen nachsinnt, wird ihr oft etwas klar. Etwas, das seit Wochen ungenau in ihr brodelt, ihr Mühe und Unzufriedenheit macht, aber nicht zu fassen ist. Sie erinnert sich, dass sie im Jahr vor der Trennung von ihrem Mann solche Kinoträume hatte, in denen es immer wieder um Verletzt-Werden, trotzdem Festhalten und schließlich Loslassen ging. Nie wird sie die Traumszene vergessen, in der ihr Liebster weit von ihr entfernt durch die Nacht übers Eis geht. Sie läuft ihm mühsam nach, aber er hört ihr Rufen und Bitten nicht. Dann bleibt sie stehen, sieht den dunklen Schatten sich entfernen und geht in der anderen, vorher gemeinsamen Richtung weiter. Erst als sie von der Geliebten ihres Mannes erfuhr und er die Scheidung verlangte, begriff sie, dass sie im Traum schon Abschied genommen hatte. Das machte die Trennungszeit und den Beginn des Alleinseins erträglicher, weil sie sich nicht nur als Opfer seiner Entscheidungen fühlte.
Keine Ehefrau mehr, denkt sie, keine Lehrerin mehr, keine Mutter. Niemandem verpflichtet. Was bin ich dann noch? Und plötzlich ist die Formel da, wie eine Erlaubnis aus dem Traum: „Nur noch Tile!“ Es fühlt sich überraschend an, aber angenehm. Vergnüglich. Tile ist jetzt endgültig wach. Sie rollt sich aus dem Bett, angelt nach ihren Hausschuhen und öffnet das Fenster.
Danke an Hannah Tims für das Beitragsbild
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