Gedanken zu Europa

„Bunt ist meine Lieblingsfarbe“

Walter Gropius

Im Alter von 5 Jahren kam ich mit Eltern und Brüdern nach Deutschland und wuchs ab dem Zeitpunkt zweisprachig auf. Ich war – und das war mir immer bewusst – anders. In zweifacher Hinsicht: wir waren die einzigen Ausländer im kleinen Dorf am Fuße des Schwarzwalds (wenige Jahre später war ich der einzige Ausländer auf dem örtlichen Gymnasium in der benachbarten Stadt) und wir waren Baptisten (teilweise über mehrere Generationen zurück), folglich war ich das auch. Dass ich dennoch den evangelischen Religionsunterricht in der Grundschule besuchte, half nicht darüber hinweg, dass keiner meiner Schulkameraden verstehen konnte was Baptisten sind.

Lange war es mein oberstes Bestreben einfach dazuzugehören und so zu sein wie andere in meinem Umfeld. Dass individuelle Form und Färbung spannende Bausteine eines Mosaiks sind, war mir als Kind in meiner damaligen Lebenswirklichkeit nicht bewusst. Ausgrenzung und Vorurteile habe ich nicht bewusst erlebt. Wenn es einen Nationalismus gegeben hat, dann hat mich das in meiner kindlichen Naivität nicht wirklich erreicht oder ich habe es nicht in Erinnerung behalten. Insofern hatte ich im Süden Deutschlands eine schöne und – man kann sagen – behütete Kindheit. Auch nach dem späteren Umzug in die größere Kreisstadt hat sich das nicht verändert. Ich hatte Freunde und niemand, der es nicht anders wusste, hätte mich als Nicht-Deutschen erkannt.

Dennoch habe ich mich nie als Deutschen empfunden. Von der Abstammung her Slowake, gebürtig im heutigen Serbien, aufgewachsen in Deutschland. Mit einem durch jährliche Sommerfahrten mit Eltern und Brüdern geprägten naiv-schwärmerischen Blick auf den Vielvölkerstaat Jugoslawien. Wenn ich gedanklich noch weiter, bis in die Geschichte meiner Vorfahren, zurückkehre, erhält die Vielfalt eine noch tragendere Prägung. Zu Zeiten Maria Theresias siedelten sich arme Bauern verschiedener Volksgruppen im fruchtbaren Donaugebiet, in der Bačka (im heutigen Serbien) an. Unter anderem lebten so Deutsche, Rumänen, Ungarn, Serben und Slowaken in diesem Gebiet zusammen. Zwar blieb jede Gruppe für sich und gründete eigene Dorfgemeinschaften, über die Zeit kam es jedoch zu Austausch und kultureller Begegnung. Nicht nur sprachlich hat das über die Generationen bis hin zu mir Einfluss genommen. So manches aus der Zeit Österreich-Ungarns trage ich vermutlich verborgen in mir. Hinzu kam der türkische Einfluss, der über Jahrhunderte auf dem Balkan herrschte. Ich war erstaunt wie viel Vertrautheit sich bei meiner ersten Reise nach Istanbul einstellte, einer mir eigentlich fremden Kultur.

Als ich später meine Frau kennenlernen durfte, hat mich unter anderem ihr Interesse an den Menschen begeistert. Und ganz besonders dieses sich Einlassen auf das Andere im Gegenüber. Kurz nach unserer Hochzeit sind wir nach Wales umgezogen. Dieser Ortswechsel gestaltete sich noch aufwändig, da ich als Jugoslawe ein Visum brauchte. Später als meine berufsbedingte Reisetätigkeit zunahm, habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Mich bei der Ein- oder Ausreise nicht mehr in der langen Schlange der „Andersartigen“ anstellen zu müssen, löst bei mir bis heute noch freudiges Wundern hervor (man beginnt mit der Zeit sich als andersartig zu empfinden, wenn man an den Grenzen regelmäßig diese Behandlung erlebt, misstrauische Blicke und Fragen auf sich zieht: als Mensch reduziert auf die Farbe des Reisepasses).

Anschließend haben wir an verschiedenen Orten in Deutschland gelebt. Diese Gegensätze zwischen Großstadt und beschaulichem Dorf führen bei letzterem bei mir inzwischen zu einem Enge-Gefühl. Heute pendeln wir zwischen Baden-Württemberg und Nord-Italien. Zuhause ist für mich dort, wo ich gemeinsame Wurzeln mit meiner Frau aufbauen kann. Wo wir willkommen sind und uns entfalten können. Wo niemand ein Bild davon hat, wie wir sein sollten. Wo wir uns einbringen können mit dem, wie unser Leben uns geprägt hat. Das trifft genauso auf den Ort zu, an dem wir wohnen wie auf die geistliche Heimat.

 „Heimat ist da, wo man sich nicht erklären muss“

Johann Gottfried von Herder

Unsere erste gemeinsame Gemeinde war daher nicht zufällig ein einzigartiges, in kein Schema passendes Konstrukt. Ein Zusammenschluss dreier Ortsgemeinden, die über die Jahre einfach zu klein geworden waren und es gemeinsam versuchten: Baptisten, Methodisten und Presbyter. Meinen Blick auf die Gemeinschaft der Christen hat dies nachhaltig verändert.

Da ich in den letzten Jahre viel auf Reisen sein musste, habe ich erlebt, wie Fremdheit sich auflöst, wenn ich anfange hinter dem Fremden den Menschen in seiner eigenen Welt, mit seinem Umfeld und seinen Erfahrungen zu erkennen. 

„Nur das Fragment ist authentisch“

Bertolt Brecht

Nationale Zugehörigkeit war für mich immer – und ist es bis heute – eine Frage der Farbe meines Reisepasses. Nicht mehr. Die Enge eines Nationalstaates habe ich nie gebraucht um mich sicher zu fühlen. Vielleicht bedingt durch meine Kindheit und die späteren Erfahrungen ist mir heute die Weite der Vielfalt eine Heimat. Dies gilt auch insbesondere für meine geistliche Heimat.

Lange Zeit war Europa für mich eine gewachsene Selbstverständlichkeit. Ich hatte nichts dazu beigetragen, dass Grenzen und Mauern fielen. Ich habe davon profitiert. Zu Europa gibt es für mich politisch betrachtet keine Alternative. Dass heute in vielen europäischen Ländern die eng-nationalistischen „Laut-Sprecher“ mit verqueren Thesen Angst schüren und sich wieder abschotten wollen, macht mich einerseits fassungslos und andererseits fordert es mich heraus es nicht hinzunehmen. So wird Europa für mich von einem gewachsenen Lebensumfeld, welches meine Biografie geprägt hat, immer mehr zu einem Auftrag.

 „Ohne Freiheit geht das Leben rückwärts“

Bertolt Brecht

by XPRIENCE

Danke an Sara Kurfeß für das Foto von Unsplash.

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