Ich habe mich entschlossen Bahn zu fahren. Auf Facebook habe ich im Vorfeld in einer Gruppe meine Verbindung gepostet und hoffe auf Mitfahrer, um mir gemeinsam ein Gruppenticket zu teilen. Dann ist es billiger. Bisher habe ich damit – sich mit fremden Menschen ein Ticket zu teilen – nur gute Erfahrungen gemacht.
Der Reisetag beginnt. Ich laufe zum Bahnhof. Als ich am Automaten das Ticket löse, hat sich niemand gemeldet. Schade, so ist es leider ein bisschen teurer. Andererseits habe ich dafür unterwegs meine Ruhe und muss mich nach niemandem richten. Die Fahrt verläuft gut. Keine Verspätung. Nach und nach komme ich meinem Ziel näher. Ich erreiche alle Anschlüsse (an dieser Stelle möchte ich der Deutschen Bahn einmal ausdrücklich dafür danken; das tut man ja sonst so selten). Auf einmal schreibt mich über Facebook ein Typ an. Ob er mein Ticket an meinem Zielort haben könne. Bubumm bubumm bubumm. Mein Herz fängt an zu klopfen. Das Blut schießt mir in den Kopf. Unwohlsein und Fragen machen sich breit: Weshalb will er mein Ticket haben? Kann er sich nicht selbst eins holen? Und warum stresst mich das so?
Ich checke zuerst sein Profil oder zumindest das, was ich davon sehen kann. Die Vorurteilsmaschinerie spult sich automatisch ab. Durchtrainiert, Bilder mit freien Oberkörper, auf den ersten Blick nicht direkt sympathisch. Ein Poser oder Player halt. Was ich sehe, bestimmt meine Gedanken über die Person. Dann antworte ich, dass es noch davon abhänge, ob ich auf der weiteren Fahrt kontrolliert werde und meinen Namen eintragen müsse. Ob das Ganze so legal ist, darüber verschwende ich keine Gedanken. Ich solle mich später nochmal melden. Die erste Nervösität hat sich gelegt. Hoffentlich werde ich einfach auf der Fahrt kontrolliert und muss mich nicht weiter damit auseinandersetzen.
Ich höre Musik, komme auf andere Gedanken. Eine Weile lang funktioniert die Ablenkung. Kein Schaffner lässt sich blicken. Ich hoffe, dass sich das Ganze erledigt hat oder wird.
Wieder ploppt eine Nachricht auf. Wie es denn aussehe? Ich schreibe, dass ich bislang noch nicht kontrolliert wurde, aber für nichts garantieren könne. Für zehn Euro würde ich ihm das Ticket weitergeben. Außerdem solle er pünktlich am Bahnhof sein, da ich nicht lange warten könne. Ich habe die Situation im Griff. Er will was von mir. Warum auch immer. Dann zu meinen Bedingungen. So kann ich wenigstens noch etwas Geld reinholen. Eine klassische Win-Win-Situation.
Die Antwort kommt prompt zurück. Er gebe mir einen Fünfer, da er nicht so weit fahren müsse. Was soll das jetzt? Kann er es nicht einfach gut sein lassen und sich mit meinem Entgegenkommen zufrieden geben? Es war schon genug Überwindung, mich darauf einzulassen. Soll ich jetzt auch noch wie auf einem französischem Wochenmarkt mit ihm handeln? Theoretisch hat er nichts in der Hand. Schließlich will er mein Ticket.
Ich google seine Verbindung, die lediglich sieben Euro und fünfzehn Cent kostet und frage zurück, warum er dafür mein Länderticket benötige. Er müsse dort noch Bus fahren, behauptet er. Kann ich ihm das glauben oder verarscht er mich? Wahrscheinlich macht er das öfters, sich alte Tickets holen. Ist ja an sich auch keine schlechte Idee. Man spart viel Geld. Gewusst wie. Doch irgendwie – ich weiß nicht warum – fühle ich mich unter Druck gesetzt. Gleichzeitig steigt eine Verantwortung in mir auf, seinen Erwartungen gerecht werden zu müssen. Warum? Was passiert, wenn ich das nicht tue? Eigentlich nichts. Trotzdem laufen einige irrationale Szenarien in meinem Kopf habe. Ich ärgere mich über mich selbst, dass diese Kleinigkeit so viel Platz in meinem Kopf einnimmt, doch ich kann es nicht kontrollieren.
Ich antworte zunächst nicht und lege mein Handy weg. Erstmal nachdenken. Nach einer Phase des intensiven Gedankenaustauschs lasse ich mich auf den Deal ein. Ich brauche das Ticket ja nach meiner Fahrt sowieso nicht mehr. Also kann ich ja auch entgegenkommend sein und einem Fremden einen Gefallen tun. Eine Art Akt der Nächstenliebe. Solange es reibungslos verläuft, muss ich ja nicht den harten Geschäftsmann raushängen lassen. Theoretisch will ich ja nichts von ihm. Ich mache ihn erneut darauf aufmerksam, dass ich immernoch kontrolliert werden könne und hoffe, dass es auch dazu kommt.
Während der weiteren Fahrt, lässt mich die Situation, die mich möglicherweise am Ziel erwartet, nicht mehr los. Jegliche Entspannung ist verflogen. Stattdessen rasen meine Gedanken: Warum stresst mich das so? Was habe ich für ein Problem damit mein Ticket weiterzugeben? Geht es nur darum, nicht am Bahnhof warten zu müssen? Oder will ich meinen Bekannten, die mich dort abholen, die Situation nicht erklären? Hat es etwas mit dem Typ zu tun oder nur mit mir?
Ich spiele mit dem Gedanken, ihm mein Ticket gratis zu überlassen. Ich würde es sonst eh wegschmeißen. Außerdem würde ich mich auch freuen, wenn mir jemand sein Ticket einfach so schenkt. Das ist Gnade. Ich nehme mir also vor ihm das Ticket zu geben und zu sagen: „Du kannst es auch geschenkt haben.“ Insgeheim hoffe ich, dass ich ihn damit überraschen und ins Nachdenken bringen kann. Ob das jemals passiert, werde ich nie erfahren.
Jetzt kommt es nur noch darauf an, nicht mehr kontrolliert zu werden. Obwohl das nicht mein Problem ist, mache ich es zu meinem. Ich habe Angst vor seiner Reaktion, falls es nicht klappt. Warum eigentlich? Er hat nichts gegen mich in der Hand. Dummerweise habe ich ihm schon meine Ankunftszeit mitgeteilt. Vielleicht würde er trotzdem zum Bahnhof kommen und mein Ticket haben wollen, obwohl ich meinen Namen hätte eintragen müssen. Ziemlich viel Konjunktiv. Oder er beschimpft mich und würde verlangen, dass ich seinen Namen hätte eintragen sollen? Ich muss ja nicht darauf antworten und kann ihn ignorieren.
Zehn Minuten vor Ankunft läuft eine Schaffnerin durchs Abteil. Oh Nein! Jetzt ist es vorbei! Fast hätte es geklappt. Wie soll ich das dem Typ bloß erklären?! Doch sie kontrolliert die Fahrgäste nicht, sondern läuft schnellen Schrittes hindurch, in ein anderes Abteil. Glück gehabt. Jetzt darf sie bloß nicht mehr zurückkommen.
Sie kommt nicht zurück. Am Ziel angelangt steige ich aus dem Zug, laufe durch die Unterführung und treffe auf den Typ. Er blickt mich grimmig an, mein unsympathischer Facebook-Eindruck bestätigt sich. Ich gebe ihm das Ticket mit den vorher ausgedachten Worten. Er bedankt sich und will mir zwei Euro als Trinkgeld geben. Ich nehme sie nicht an und gehe. Meine Erleichterung, diese Situation hinter mich gebracht zu haben, ist in diesem Moment mein größter Lohn und wichtiger, als das Geld. Was bleibt sind Fragen, die mich zum Nachdenken und Reflektieren bringen:
Warum habe sich meine Gedanken während der Fahrt so von dieser Situation einnehmen lassen?
Warum habe ich krampfhaft versucht, den Erwartungen eines Fremden zu entsprechen?
Fortsetzung folgt am 26. April, 16 Uhr.
Danke an Martin Adams für das Foto auf Unsplash.
Geht mir bei eBay Kleinanzeigen auch manchmal so. Man schuldet niemandem etwas, zB wenn man ausmacht, dass man das Objekt erstmal unverbindlich anschaut. Trotzdem stresst man sich voll.
Oder wenn man im Laden nix kaufen will, obwohl sich die Verkäuferin (ja, es sind meistens weibliche Angestellte) sooo angestrengt hat (ungebeten).
Just very British problems 😀