Ich bin da – und was nun?

Kathi, 23, studiert Sonderpädagogik. Ist begeistert davon, andere Menschen, Kulturen und Länder kennenzulernen. Liebt es ausgiebig in Gemeinschaft zu frühstücken. Erlebt während Gebetsspaziergängen den besten Austausch mit Gott..


Ich bin da – in dem Hotspotcamp der EU – und was nun?

Ich bin da, an einem Ort, der von der EU über Jahre hinweg als Hotspot der Flüchtlingsthematik gesehen wurde. Das Moria Camp auf Lesbos. Ein Ort, an dem viel zu viele Menschen schon viel zu lange in kleinen Zelten und Baracken unter schlimmsten, teilweise unmenschlichen Lebensbedingungen leben mussten und auch weiterhin leben. Vor Ort zu sein heißt nicht unbedingt, dass man in alles einen Einblick bekommt. Und es heißt auch bei weitem nicht, alles verändern zu können. Ich habe oft abends reflektiert, was das vor Ort sein heute für mich spezifisch bedeutet hat. Manchmal ging es darum, praktisch anzupacken. Die Habseligkeiten einer Familie durch das ganze Camp zu tragen und in einem neuen Zelt ein Zuhause zu schaffen. Aber immer wieder ist es auch notwendig, Personen von einer Panikattacke zu beruhigen und Arzttermine für sie auszumachen. Im Allgemeinen geht es wohl darum, das Beste aus dem zu machen, was der Ort zu bieten hat. Es geht darum, Beziehungen aufzubauen zu den Menschen, für die die sozialen Kontakte und die Gemeinschaft aufgrund ihrer Kultur vor allem stehen und die mit ihrer Offenheit, Herzlichkeit und Gastfreundschaft beeindrucken.  

Ich bin da – auf Lesbos nach dem Feuer – und was nun?

Ich bin an einem Ort, der seit dem großen Brand im September 2020 nicht mehr derselbe ist und Menschen innerhalb und während ihrer Flucht durch einen weiteren Grund fliehen lässt. Ein Ort, der sich ständig verändert. Von dem Leben auf der Straße über kleine und große Schritte zu der Errichtung eines neuen Camps. Besonders hier stellt sich heraus, wie die vielen Männer, Frauen und Kinder in den letzten Monaten oder Jahren ihrer Flucht gelernt haben, mit fast nichts zu überleben. Sogar auf der Straße wird man noch zu einem Tee eingeladen. Vieles bleibt dabei aber vor meinen Augen auch verborgen. Zum Beispiel dass die Polizei eine Menschenmenge mit Tränengas in Schacht zu halten versucht. Manchmal ist das vor Ort sein dazu da, um eine verzweifelte Frau lange und fest zu umarmen, mit ihr zu weinen und für sie zu beten. Und vor Ort zu sein, heißt manchmal auch mitzubekommen, wie sich ein Mann für eine ihm unbekannte Großfamilie mit kleinen Kindern für ein gutes, wetterfestes Zelt einsetzt und nicht nur sein eigenes Wohlergehen im Blick hat. Es handelt sich also um einen Ort, der unglaublich viele Emotionen für alle Beteiligten bereithält. Besonders die Hoffnung in einer oft so scheinbar hoffnungslosen Welt dieses Camps zieht sich durch diesen Ort. Hoffnungen auf einen Arzttermin, auf einen Transfer aufs Festland, auf mehr Essen, auf ein größeres Zelt, auf vieles mehr. Es sind alles Hoffnungen, die sehr oft durch die Entscheidungen anderer Menschen wieder zerstört werden und die Campbewohner in völliger Abhängigkeit von anderen Menschen leben lassen. 

Ich bin da – zurück in meiner Heimat – und was nun?

Im direkt am Wasser gebauten Camp herrschen zusätzlich durch Wind und Wetter wirklich menschenunwürdige Lebensumstände. Die kalten Wintermonate verbringe ich im Warmen. Das vor Ort sein heißt hier für mich, dass ich mein Studium fortsetzen kann, das Haus täglich verlassen darf, Freunde und Familie sehen kann und ich relativ selbstbestimmt lebe. Für mich stellt sich die Frage, was die Zeit auf Lesbos in mir verändert hat, wie ich mit diesen Erlebnissen weiterhin umgehe und vor allem, was andere Leute mit meinen Erzählungen anfangen können und sollen. Ich habe dazu weniger Antworten als ich sie gerne hätte. Vielleicht eher Reflexionsfragen, die vor allem mir gelten, vielleicht aber auch dich zum Nachdenken anregen. Ich habe mir vor Ort vorgenommen, die Menschen und ihre Situation im Gebet weiterhin zu begleiten. Dreimal darfst du raten. Es gelingt mir so viel weniger, als ich es mir wünschen würde. Die erste Woche in Deutschland wollte ich auch erst mal gar nichts mehr davon hören, geschweige denn davon erzählen. Erzählungen über die schreckliche Situation vor Ort sind für die meisten nicht so sehr neu. Für den Zuhörer wird es vermutlich nur etwas konkreter und persönlicher. Dass es ein Ort ist, der in seiner Form schon lange nicht mehr bestehen sollte, ist bezogen auf das ganze Ausmaß, vermutlich trotzdem nur Wenigen klar.

Mit der durch Berichte und Bilder geschürten Aufmerksamkeit für das Camp kann ich eventuell zu der Unterstützung der Organisationen vor Ort, zu der Teilnahme an Demonstrationen und zu dem Beten für diese vielen Menschen aufrufen. Aber was ist nun, wenn ich wieder in meiner Heimat bin, weit weg von der Lebenssituation so vieler geflüchteter Menschen und eingehüllt in meinen sicheren Alltag. Ein Gedanke, der mich hier beschäftigt, wurde mir schon vor meiner Abreise mitgegeben. Was passiert denn in meiner Heimat mit den Menschen, die es in mein Herkunftsland geschafft haben? Wie gehe ich oder wie gehen wir als Gesellschaft mit ihnen um? Setze ich mich für sie ein? Menschen, deren Traumatisierungen mit dem Erreichen eines sogenannten sicheren Landes nicht einfach aufgehoben sind. Menschen, deren Hoffnung auf eine Einreise nach Deutschland erfüllt wurde. Aber bin nicht ich diejenige und sind nicht wir diejenigen, die mal wieder die Hoffnung zerstören? Sind nicht manchmal auch wir die Menschen, die Deutschland als ein unpersönliches und kaltes Land erscheinen lassen, in dem die Bürokratie und das Arbeiten oft einen zu hohen Stellenwert einnimmt? Ich muss mir selbst die Frage stellen, ob ich nicht zuerst hier an dem Ort, an dem ich jetzt nun mal bin, anfange zu wirken. Anfange, mit den Leuten Zeit zu verbringen, sie zu schätzen und willkommen zu heißen und nicht schon wieder darüber nachdenke, erneut ins Camp oder das nächste Land zu reisen. Das ist sicherlich wichtig und die Unterstützung der Organisationen vor Ort ist notwendig. Aber das sind nicht die einzigen Menschen, die Hilfe brauchen. 

Wir sind da – genau an diesem Ort – und was nun? 


Foto: Silas Zindel

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