Ich habe es satt, zu hungern!


Freiheit bedeutet für mich, zu essen, wenn ich Hunger habe. Freiheit bedeutet für mich, zu jeder x-beliebigen Uhrzeit Kohlenhydrate auf meinem Teller zu haben. Freiheit bedeutet für mich, mit Freunden am Lagerfeuer gegrillte Marshmallows zu genießen oder spontan Eis essen zu gehen. Freiheit bedeutet für mich, die Zahl auf der Waage unabhängig von meinem Selbstwert zu betrachten. Freiheit bedeutet für mich, unter Menschen zu sein und mich dabei pudelwohl in meinem Körper zu fühlen.

Ein Schälchen Magerquark, eine Grapefruit und fünf Nüsse. Das war’s. Frühstück, Mittagessen und Abendessen in einem. Doch vorher noch ein Blick auf die Waage. Stimmt das Gewicht? Sonst lass ich die Nüsse weg. Und eine Hälfte der Grapefruit.

Mit 18 Jahren war ich eine selbstbewusste, fröhliche, normalgewichtige junge Frau. Bis ich an einer Essstörung erkrankte. Innerhalb kürzester Zeit verlor ich 25 Kilogramm und mit jedem Strich weniger auf der Waage wurde ich ängstlicher, trauriger und verzweifelter. Die Veränderung passierte schleichend. Ich selbst realisierte sie lange Zeit gar nicht. Lediglich meinem Umfeld fiel auf, dass ich sehr dünn geworden war, doch ihre besorgten Mienen und Kommentare erreichten mich nicht. Ich machte einfach weiter mit meinem fragwürdigen Ernährungsplan. Ausreden und Lügen wie „Ich habe schon vorher gegessen“ und „Ich habe keinen Hunger“ oder „Ich bin leider allergisch gegen …“ waren meine täglichen Fluchtwege, wenn andere mir Essen anboten. Das ging eine ganze Weile so. 

Ein Jahr später war mein Körper extrem geschwächt. Wenn ich morgens aus dem Bett aufstand, musste ich mich mehrere Minuten an der Bettkante festhalten, weil mir schwarz vor Augen war. Auf dem Fahrrad fühlten sich meine Beine wie Wackelpudding an und zweimal verlor ich in der Öffentlichkeit einfach so das Bewusstsein und hatte Glück, weil Passanten mich auffingen oder stützten. Die Liste meiner „No-Go-Lebensmittel“ war länger geworden als die Seiten eines Telefonbuchs. Wenn ich einmal keinen Sport machte, quälten mich Gewissensbisse. Jede Mahlzeit außerhalb meines strikten, selbst-konstruierten Ernährungsplans fühlte sich für mich wie ein „Kontrollverlust“ an. Mein Spiegelbild löste in mir starken Selbsthass aus. Ich traute mich nicht mehr aus dem Haus.

Ich hatte Angst, meine Freunde zu treffen. Ich hatte Angst, einkaufen zu gehen. Ich hatte Angst, durch Türrahmen zu gehen oder mich auf Stühle zu setzen, weil ich befürchtete, dafür zu breit und zu schwer zu sein. Nachdem ich etwas gegessen hatte, betrachtete ich panisch meinen Bauch und wollte das „Fett“ wegschneiden. Meine Wahrnehmung war komplett verzerrt. Mir war zu jedem Moment eiskalt, trotz mehrerer Sockenpaare und Pullover übereinander. Es fühlte sich an, als sei alles in mir eingefroren. Auch meine Gefühle. Eine Gleichgültigkeit schlich sich ein. Trauer, Schmerz und Wut waren ruhig in mir geworden, aber auch Freude, Empathie und Glückseligkeit. Ich war abgestumpft. Ich gefährdete mich jeden Tag selbst. Doch mir war alles egal.

Es brauchte noch eine Weile, bis ich verstand, dass ich ein ernsthaftes Problem hatte. Doch als ich es endlich begriff, war es schon zu spät. Es gelang mir nicht mehr, zu normalen Essgewohnheiten zurückzukehren. Es war ein Kampf mit und gegen mich selbst. Als ich endlich wieder essen wollte, konnte ich es nicht mehr.

Das „Dünn-Sein“ war zu meinem Götzen geworden und ich war an Magersucht erkrankt. Ich habe nie richtig begriffen, welche Entscheidungen ich da traf und welchen Überzeugungen ich glaubte. Heute ist es mir, als sei ich „ferngesteuert“ gewesen. Als hätte irgendjemand anderes entschieden, was ich tat und was ich ließ. Es ist mir bis heute ein Rätsel, doch ich denke, genau das ist die Crux dieser Krankheit.

Wenn ich heute Bilder aus der Zeit von mir sehe, ist es wirklich unfassbar, wie ich solche Gedanken haben konnte, denn da war kein „Fett“ mehr, das weggeschnitten werden konnte. Mein Gesicht war eingefallen, meine Wangenknochen standen unschön heraus und meine Augenringe hingen immer tiefer. Mein runder Po war Geschichte. Stattdessen rutschte meine Hose, wenn ich sie nicht mit einem enger gestochenen Gürtel festhielt. Meine Hüft- und Rippenknochen standen unter meinem Top hervor und ich hatte kaum noch Kleidung, die mein Körper ansatzweise ausfüllte.

Als meine Familienmitglieder kurz vor Neujahr über ihre Vorsätze fürs neue Jahr sprachen, gestand ich mir im Stillen endlich ein, dass ich mir Hilfe suchen musste. Zuallererst vertraute ich mich meiner Mutter an und suchte nach langem Ringen eine ambulante Psychotherapeutin auf. Gemeinsam mit ihr versuchte ich wieder an Gewicht zuzunehmen und einen von ihr erstellten Ernährungsplan zu verfolgen. Doch es gelang mir nicht. Einen Monat später wurde ich in einer Klinik aufgenommen.

Ich war in der Sucht gefangen, wie in einem viel zu engen Käfig. Und niemand hatte einen Schlüssel, außer mir selbst, doch den konnte ich nicht benutzen, weil ich nicht wusste, wie er aussah und wie ich ihn benutzte. Doch es gab Menschen, die mir halfen, mich in diesem viel zu engen Käfig zurechtzufinden und schließlich auch aus ihm auszubrechen. 

Das war ein sehr, sehr langer Prozess. Es folgten noch ein paar Jahre, in denen ich mich immer weiter aus dem Käfig der Essstörung befreien musste. Nachdem ich die Magersucht besiegt hatte, litt ich noch eine Zeit lang an Bulimie. Ich war häufig verzweifelt, hilflos und hoffnungslos. Doch jedes Mal, wenn ich zurückblickte, wusste ich, dass mein Weg nur vorwärts führte! Raus aus dem engen Käfig.
Immer weiter Richtung „Freiheit“.

Eure Greta,
die es einiges an Mut gekostet hat, diesen Blogbeitrag zu schreiben und die jeder/jedem ans Herz legen möchte, dass es das einzig Richtige in so einer Situation ist, sich Hilfe zu suchen und sie anzunehmen.

Kommentar verfassen