Identität – Ein Grundriss

In meinem letzten Beitrag bin ich auf ein christliches Selbstverständnis und Identität zu sprechen gekommen. Es ging darum, welches Potenzial darin steckt. Interessanterweise bin ich seitdem außergewöhnlich oft darüber gestolpert. Und ich meine wirklich gestolpert. Das liegt daran, dass über Identität viel Gutes und Wertvolles gesagt wird, aber auch viel Ergänzungsbedürftiges. Ich versuche das mal „kurz“ auszuführen, wie es in diesem Rahmen möglich ist. Begebt euch mal in das Thema hinein, es ist existentiell und es lohnt sich, das Identitätsthema zu durchdringen.

Beim letzten Mal habe ich beschrieben, warum die Identitätsfrage in einer individualisierten Welt ohne Gott eine mühselige Sisyphosarbeit ist. Man könnte sagen, sie ist eine „never-ending-story“, zumindest so lange man lebt. Von Gott kann man erwarten, dass er diesen Kreisel der Selbsterfindung durchbricht und die Identitätsfrage „Wer bin ich“? zu „Wer sagst du, Gott, dass ich bin?“ verlagert. Eine Identität ohne Gott ist ziemlich flüchtig, weil wir Menschen ständigen Veränderungen und Einflüssen ausgesetzt sind und unsere Perspektive sich ständig ändert. Bei Gott ist das anders. Er steht etwas außerhalb unseres Identitätskreisels und bringt von dort Stabilität hinein, weil seine Perspektive sich nicht ändert und er keinen gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt ist. Er ist der einzige, der etwas Zutreffendes über mich sagen kann, das auch unabhängig von mir und meinem mich beeinflussenden Umfeld stimmt. Diese Metaebene, Gottes Herantreten von außen, macht den Unterschied zwischen einer Identität mit und ohne Gott aus.

Das allmähliche Verstehen und Nachvollziehen der eigenen Identität ist ein vielschichtiger Prozess, zu dem auch mal ein Blick in die eigene Vergangenheit gehört. Man versteht sich besser, wenn man begreift, wie die eigene Erziehung, prägende Menschen und Persönlichkeitsformende Erlebnisse ihren Einfluss auf die eigenen Werte, Bedürfnisse und Verhaltensmuster nehmen. Ebenso unerlässlich ist die Einsicht, dass andere anders sind, weil sie eine andere Geschichte und Prägung haben. Dem zufolge bin auch ich anders. Das Problem dabei ist, dass das alles nur Momentaufnahmen sind. Jeder Tag bringt neue, mehr oder weniger prägende Ereignisse mit sich, sodass man seine eigene Geschichte ständig überdenken und neu einschätzen muss. Persönlichkeit ändert sich. Aber für so eine Selbstbetrachtung braucht man Gott nicht unbedingt.

Im christlichen Kontext wird das Identitätsthema leider allzu oft auf den Selbstwert reduziert. Anhand einiger aus dem Kontext gerissen Bibelzitate wird schnell aufgezeigt, dass jeder von Gott wunderbar geschaffen und wertvoll ist. Das stimmt ja auch, aber der Weg endet hier nicht. Besonders der Psalm 139 steht dabei hoch im Kurs. Leider wird bei diesem Vorgehen der Schwerpunkt von der Schöpfergenialität Gottes zum Menschen hin verschoben. Wie ein wunderbarer Tonkrug, der seine eigene Schönheit betrachtet, anstatt seinen Töpfer zu loben. Am Schluss stehen dann merkwürdige Schlussfolgerungen wie „Du bist perfekt so, wie du bist.“ Dabei reicht eine kurze Selbstreflexion, um diesen Satz zu widerlegen. Manch einer führt hier auch gerne eine „Kind-Gottes-Metaphorik“ ein. So wird jeder Mensch als wunderbares, wertvolles und geliebtes Geschöpf fälschlicherweise zum Kind Gottes erklärt und die Gott-Mensch-Beziehung zu einer Art Papa-Kuschel-Zone verklärt.

Korrekt wäre, dass nur alle Glaubenden die Gotteskindschaft geschenkt bekommen. Das Missverständnis kommt daher, dass für diese Metaphorik eine Kind-Vorstellung herangezogen wird, die dem Deutschland des 21. Jahrhunderts entspricht. Kinder haben bei uns einen hohen Stellenwert und werden als eine Art wertvollstes Gut sehr geliebt, manchmal vielleicht zu sehr. Bei manchen Eltern hat man sogar das Gefühl, ihr Kind fülle 110 Prozent ihres Lebens aus und links und rechts davon wird alles vergessen. Aber Gott ist keine Helikoptermutti. Oft kommt es mir so vor, als könne er auf wundersame Weise die lange Leine mit knallharter Erziehung kombinieren.

Der „biblische“, vorderorientalisch-antike Kindsbegriff präsentiert sich ganz anders. Kinder sind für den wirtschaftlichen und sozial-gesellschaftlichen Erhalt der patriarchalisch geführten Sippe unerlässlich und mitverantwortlich. Sie sollen ihren Eltern strengen Gehorsam entgegenbringen und ihre Kindschaft hat durch das Erbrecht vor allem eine juristische Bedeutung. Über diese juristische Ebene hinaus gibt es eine Beziehungsebene zwischen Vater und Kind, die vor allem im Johannesevangelium hervorgehoben wird. Wenn Christen Kinder Gottes genannt werden, bedeutet das, dass sie eine auf Gehorsam und Vertrauen basierende Beziehung mit Gott ihrem Vater leben, die zu einer Beziehung reifen soll, die der zwischen Gott und seinem Sohn Jesus gleicht. Deshalb setzt Gott sie als seine Erben ein, die eines Tages sein Reich, das Himmelreich erben sollen. Man kann sagen, dass Gotteskindschaft eher eine Ermächtigung zur Verantwortung und Zugehörigkeit in Unterordnung impliziert, als eine neumoderne Infantilisierung des Menschen in seiner Gottesbeziehung.

Der Selbstwert einer christlichen Identität bildet sich vor allem durch die Verinnerlichung von Gottes liebender Selbstaufopferung am Kreuz für die Erlösung des verloren gegangenen Menschen aus seiner selbstverschuldeten Egozentrik und Ignoranz. Vor diesem Hintergrund wirken Sätze wie „Du bist perfekt, genauso wie du bist“ geradezu blasphemisch. In der Frage der Identität geht es aber um noch viel mehr als nur um unser Selbstwertempfinden. Es geht um einen Platz, einen Sinn im Leben. Es geht um ein Ziel und eine Daseinsberechtigung.

Ich halte es deshalb für sinnvoll, dass man die Gotteskind-Identität um eine Zeugenidentität ergänzt. Kinder können besonders gut „Meins!“ und „Nein!“ sagen, aber ein Zeuge steht mit Leib und Seele für das, was ihm widerfahren ist; das, was er gesehen, gehört und gefühlt hat. Ein Zeuge definiert sich gewissermaßen über jemand anderen. Die Vater-Kind-Beziehung gepaart mit dem Zeuge-Sein macht die alleinige Selbstbetrachtung zur Identitätssuche sekundär und begründet die christliche Identität in einer relationalen, bidirektionalen Gottesinteraktion. Christliche Identitätssuche ist ein Top-Down-Unterfangen. Es ergibt nur Sinn, wenn man bei Gott anfängt. Darauf aufbauend kann eine Suche in der Vergangenheit und der eigenen Persönlichkeit sehr bereichernd sein. Ohne Gott bleibt die Identitätssuche eine Karussellfahrt ohne Ausstieg.

Euer Lukas


Hörenswert: https://emergent-deutschland.de/podcast-2/

Photo by Noah Buscher on Unsplash.

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