Vor einem Jahr war ich ein ziemlicher Serienjunkie, wenn man das so sagen kann. Da ich mein Netflix-Abo voll ausreizen wollte, habe ich so einiges geschaut. Eine Serie ist mir besonders ins Auge gesprungen. Mit ein paar Arbeitskollegen habe ich angefangen »Designated Survivor« zu schauen. Eine super spannende Serie, die mich in vielerlei Hinsicht sehr fasziniert hat.
Damit alle auf demselben Stand sind, erkläre ich mal ganz grob (ohne zu Spoilern), um was es genau geht:
Während der Rede zur Lage der Nation bringt man in den USA ein Kabinettsmitglied an einen geheimen Ort. Im Falle eines Angriffs auf das Parlament, wird dieser Präsident. Der sogenannte »Designated Survivor«. Dieser unwahrscheinliche Fall ist in der Realität tatsächlich im sogenannten »Presidential Sucsession Act« geregelt.
In einer Nacht wird der Hauptcharakter, Tom Kirkman, der auserwählte »Designated Survivour«. Einen Tag zuvor wurde er vom Präsidenten gefeuert. Das war also seine letzte kleine Aufgabe. Eine reine Routinearbeit. Doch dabei bleibt es nicht. Es wird ein Job mit großen Konsequenzen. In genau dieser Nacht passiert das Horrorszenario, das niemand erwartet hat. Das Parlamentsgebäude wird bei einem Anschlag in die Luft gesprengt. Alle sind tot. Auch der Präsident. Von einem Moment auf den anderen ist der Unerfahrene, parteilose Familienvater Kirkman Präsident von Amerika. Der mächtigste Mann der Welt. Seine Frau »First Lady«. Seine Kinder direkt mit im Rampenlicht.
Niemand traut ihm diese Aufgabe zu. Doch keiner, der Kirkman persönlich trifft, würde ihm das natürlich direkt ins Gesicht sagen. Kirkman, sichtlich überfordert von der Situation rennt aufs Klo, um alleine zu sein.
Auf einmal spricht ihn Seth, ein Pressesprecher, aus der Kabine nebendran an und sagt:
»Machen Sie sich nichts vor. Uns geht es heute allen so. Es ist einfach schlimm. Wissen Sie, wer jetzt das Sagen hat? Ich frage nur, weil ich mir seinen Namen nicht merken kann… Er ist der kleinste Fisch im ganzen Teich. Gestern hat ihn der Präsident gefeuert und jetzt ist er der, an den sich das Land in seiner schwärzesten Stunde wenden muss.« Kirkman sagt darauf nichts. Als sie beide aus ihrer Kabine herauskommen ist der Schock groß. Er hatte gerade, ohne es zu wissen, mit dem Präsidenten gesprochen. Darauf fragt Kirkman, ob Seth das ernst meine. Ob er wirklich ungeeignet für den Job sei. Da er ja sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, antwortet er: »Nein. Ich denke nicht das Sie der Richtige sind.«
Schon eine skurrile Situation. Allein schon, wenn man bedenkt, dass sie sich durch die Kabine unterhalten. Aber das nur am Rande. Interessanter finde ich den Fakt, dass Seth dadurch, dass er nicht weiß, mit wem er spricht, ganz ehrlich sagt, was er denkt.
Dabei stelle ich mir die Frage: Wie oft sage ich etwas ganz anderes, als ich denke?
Möchtest du das letzte Stück Kuchen essen? (Boah! Darauf hätte ich jetzt richtig Lust! Schwarzwälder Kirschtorte hatte ich schon lange nicht mehr!) »Nene… Danke. Ich habe gerade erst Mittag gegessen und bin noch total satt. Iss du ruhig!«
»Was sagst du zu den Powerpoint Folien für die Präsentation? Sehen die so gut aus? (Ach du meine Güte die sind ja furchtbar! Damit werden wir uns nur blamieren!) »Ja… sind echt… cool geworden. Kannst du so lassen.«
»Könntest du dir vorstellen nächste Woche noch einen Flyer fertig zu machen, damit wir sie bald in den Druck geben können? (Auch das noch? Ich habe doch sowieso schon so viel Stress mit meinem Uniprojekt. Und dann auch noch an den Flyer setzten?) »Klar! Kein Problem! Kann ich mich heute Abend noch dran setzen! Kannst du mir dann bitte die ganzen Daten schicken, die darauf sollen?«
Meinen iranischen Kollegen, mit denen ich die Serie geschaut habe, waren solche Situationen kulturbedingt sehr bekannt. Im Persischen gibt es sogar einen Begriff dafür: Taruff. Wie oft erwische ich mich selbst beim »Taruff«? Dabei, dass meine Gedanken und Aussagen so extrem weit auseinander klaffen? Warum ist das so?
Ich glaube, ein großer Teil davon ist erlernte Höflichkeit. Ich möchte Leute nicht vor den Kopf stoßen.
Doch wie höflich ist es, das Stück Kuchen abzulehnen, dass mir meine Oma geben möchte, weil sie mir doch etwas Gutes tun will?
Oder wie höflich ist es, wenn ich meinen Kommilitonen nicht darauf aufmerksam mache, dass er seine Powerpoint eventuell nochmal überarbeiten sollte?
Oder wie gut tut es mir, wenn ich aus Höflichkeit zu allem „Ja“ sage, nur um jedem einen Gefallen zu tun?
Was mir auch häufig auffällt, ist, dass man so oft mit irgendwelchen Dingen um sich schmeißt, »die man halt so sagt«. Ich frage: »Wie gehts?« Aber in Wirklichkeit interessiert es mich gar nicht. Ich bedanke mich, aber tatsächlich meine ich das gar nicht. Ich lobe das Mittagessen meiner Mutter, nur weil sie das doch so gerne hört. Ich erzähle einen Witz, nur um vom Durcheinander in meinem Leben abzulenken.
Das ist alles nett. Angebracht. Höflich und höchst löblich. Aber wem bringt es was, wenn ich Sachen einfach daher sage und gar nicht wirklich meine?
Ich merke, wie mir oft eine grundlegende Ehrlichkeit fehlt. Eine Ehrlichkeit, in der ich sage, was ich denke. Die aber auf keinen Fall abwertet, schlechtmacht oder erniedrigt, sondern aufbaut und Menschen weiter bringt. Ich glaube, es braucht mehr »Klokabinen-Situationen« in meinem Leben. Situationen, in denen ich wirklich sage, was ich denke.
Seth jedenfalls wurde nach dieser Situation zu einem der engsten Vertrauten des Präsidenten. Vielleicht auch, weil Kirkman darauf vertrauen konnte, dass Seth ehrlich sagt, wenn etwas schiefläuft. Eben weil er ihm nicht die ganze Zeit nur Honig ums Maul schmierte, wie alle anderen.
»Euer Ja sei ein Ja und euer Nein ein Nein«
Matthäus 5,37
Text: Philipp Jenny
Bild: Martin Castro