Warum auf dem Beitragsbild eine Corona-Postkarte abgebildet ist? Ironie des Schicksals vielleicht. Mit dem Coronavirus hat das rein gar nichts zu tun. Diese Karte war nur das Einzige, was mir einfiel, als ich angefangen habe, diese Zeilen zu schreiben und über Heimat nachzudenken. Sie begleitet mich seit nunmehr fünf Jahren durch mein Leben. Sie hing an so vielen Pinnwänden, an so vielen Orten. Gefunden habe ich sie damals im Postkartenständer eines kleinen Kulturkinos in Brisbane. Ich habe viele davon mitgenommen und verschickt, weil sie so gut gepasst haben. From Where You’d Rather Be. [1] Aus der Hauptstadt des Sunshine State in Australien [2].
Warum ich von Auslandsabenteuern und Fernweh spreche? Und das, wo sich in der aktuellen AP-Serie „Fest verwurzelt oder umgetopft?“ alles um Heimat dreht. Ironie des Heimatbegriffs vielleicht. Man kann Heimat nicht erklären ohne Fremde. Man kann Heimat nicht fassen, ohne mal weg gewesen zu sein. Und vor allem kann man die Vielschichtigkeit von Heimat nicht begreifen, ohne ein größeres Bild zu zeichnen. Eine Skizze davon will ich im Folgenden versuchen. Wer sich für alle Teilaspekte des Themas interessiert, dem empfehle ich einfach mal den Wikipediaeintrag [3] zu Heimat zu lesen. Dabei sei vorab gesagt, dass den Heimatbegriff eine Unbestimmtheit auszeichnet, demzufolge keine einheitliche Definition von Heimat existiert und sich der Begriff zudem in ständiger Diskussion [4] befindet.
Heimat also. Eine Thematik, die zumindest in mir etwas aufwühlt. Ein Begriff, der zu meinem Herzen spricht. Der Drang in den Wald rennen und schreien zu müssen, weil ich diese Zerrissenheit so gut kenne. Und schlussendlich das Gefühl unentwegt weinen zu können, weil ich immer noch nirgendwo hinzugehören scheine. Irgendwie noch nie irgendwo hingehört habe. Das sind die allerersten Assoziationen, die in mir aufkommen. Vermutlich hast auch du erste Assoziationen, wenn du an Heimat denkst. Dieser Begriff scheint also tatsächlich etwas mit uns zu machen. Das haben offensichtlich auch die Macher der Visual Statement Postkarten erkannt. Auf den Karten stehen nun Dinge, die ich im Folgenden kurz auseinandernehmen will.
Heimat ist da, wo mein Herz ist.
Für manche Menschen vielleicht. Mag sein, ja. Aber rein neurobiologisch betrachtet, ist Heimat da, wo mein Gehirn ist. Unmengen von Engrammen [5] hinterlassen nämlich dauerhafte strukturelle Änderungen in meinem Gehirn. Diese Engramme kann man sich als physiologische Spuren vorstellen, die Reizeinwirkungen von außen aufnehmen und dann das Gedächtnis bilden. Sie erfassen alles, was um mich herum passiert und je länger ich an einem Ort verweile, desto mehr verfestigen sich diese Engramme synaptisch. Ganz grundlegend sind dabei positive Kindheitserinnerungen, da diese einen leeren Gedächtnisspeicher beschreiben und somit viel Raum bleibt, um ein Heimatgefühl und Zugehörigkeit zu manifestieren. Oftmals empfinden wir daher noch im späten Erwachsenenalter eine tiefe Verbundenheit zu unserer Kindheit und damit verbunden zu unserer Geburtsstätte und unserer Familie. Mit der Erklärung von Heimat kann ich leben. Ganz natürlich ablaufende, menschliche Prozesse der Neurobiologie. Wenig Emotion, kein Tamtam, einfach nur Synapsenverbindungen. Das macht es unmöglich Heimat zu romantisieren oder zu instrumentalisieren. Genau das wird allerdings oft mit Heimat gemacht. Umso mehr sollten wir mal kurz innehalten und das Ganze sachlich und schlicht erfassen. Alle Assoziationen beiseitelegen und genau dort stehen lassen, während wir weiter gehen, um herauszufinden, was dran ist an der Heimat. Kann die Biologie wirklich alles sein? Oder ist da nicht doch noch mehr? Müsste da nicht mehr sein?
Ja, wenn man der Postkarte, auf der „Heimat ist kein Ort. Heimat ist ein Gefühl.“ steht, glauben mag. Dann gibt es sie also doch, die emotionale, romantisch verklärte Art von Heimat. Stellt sich nur die Frage, ob die Postkarte recht hat oder sich der Spruch nur einfach wahnsinnig gut verkauft. Weil wir als Millennials, als Generation Y&Z immer weniger Verbundenheit zu Orten empfinden, uns aber dennoch nach Heimat sehnen. Und wenn Heimat ein Gefühl ist, haben wir in all unserer globalisierten Freiheit doch die Möglichkeit Heimat zu empfinden. Diese emotionale Heimat 2.0 im globalen Dorf ist wichtig, weil Heimat entscheidend ist, damit wir unsere Identität bilden können und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit nachkommen. Bleibt nur immer noch die Frage: stimmt das denn? Ist Heimat tatsächlich auch ein Gefühl? Schauen wir uns dazu am besten einmal kurz an, was diejenigen zu sagen haben, die während der NS-Zeit ihre Heimat durch Flucht und Vertreibung verlassen mussten. Viele dieser Vertriebenen haben sich mit Heimat befasst und im Exil versucht zu reproduzieren, was die Heimat ausmacht. Sowohl der Philosoph Ernst Bloch als auch der Jurist Bernhard Schlink kommen dabei zu dem Schluss, dass Heimat Utopie ist. Ein „Nicht-Ort“. Heimat existiert zwar, aber nicht als realer Ort. Sie ist vielmehr ein Gefühl, eine Sehnsucht, eine Hoffnung. Die Erklärung vom „Nicht-Ort“ ist selbst im Bezug auf das Paradies als ewige Heimat sehr zutreffend. Seit dem Sündenfall und der Vertreibung der Menschen aus dem Garten Eden sind die Menschen Hoffende auf ein ewiges Zuhause in eben diesem Paradies. Hoffende auf ewige Gemeinschaft mit Gott, die hier auf Erden beginnt. Und genau hier pflanzen wir Wurzeln, damit uns der Glaube Heimat wird und das Paradies nicht für immer „Nicht-Ort“ bleibt. Damit wir in Gemeinschaft mit ebendiesem Schöpfer des Universums leben können. Und bei der Komponente von Gemeinschaft beginnt die nächste Heimatdefinition.
Freundschaft. Das ist wie Heimat.
Das hat sich zumindest in meinen Leben als wahr erwiesen. Heimat ist da, wo Menschen sind, die meinem Dasein Sicherheit und Verlässlichkeit vermitteln. Der Schriftsteller Saša Stanišić behauptet sogar, dass für das Empfinden von Heimat lediglich Wohlfühlorte wichtig sind. Man kann somit erstens mehrere Heimaten haben und sich diese zweitens sowohl suchen als auch selbst erschaffen. Mitten in all unserem Alltag und mitten im Leben, genau da ist Heimat, da sind Orte des Vertrauens. Hier in unserem sozialen Raum interagieren wir, hier sind wir. Hier ist Zuhause. Hier ist Lebensmöglichkeit, Eigengestaltung, Selbstverwirklichung, wenn man so mag. Hier können wir mitgestalten, indem wir uns durch unser Bewusstsein und unser Verhalten immer wieder neu schaffen. Wir stehen nicht mehr vor einer Kulisse, in die wir mit unserer Geburt reingestellt wurden, sondern wir werden zu Gestaltern, zu Machern, zu Bühnenbildnern!
Und das ist gut so, denn das größere Bild, das ich hier zeichnen wollte, lässt doch wirklich noch Etwas zu wünschen übrig. Also will ich euch Mut machen nochmal kurz innezuhalten und zu überlegen: Was ist deine Heimat? Und letztlich: Wieso glaubst du überhaupt Heimat zu brauchen?
Eben diese letzte ernüchternde Frage ist eine der ersten, die mir einfiel, als ich angefangen hab über das Thema nachzudenken. Ich wünschte, ich würde glauben, keine Heimat zu brauchen, aber alles in mir schreit danach. Außerdem lehrt mich meine Erfahrung, dass ich ohne Heimat verloren dahintreibe. Also lasst uns Heimat wertschätzen, wenn wir wissen was sie für uns ist. Und lasst sie uns suchen, wenn wir noch immer nirgendwo hinzugehören scheinen.
Und ich hoffe inständig, dass deine Suche dich vielleicht zum Schöpfer des Universums führt. Zu dem, der das Verlangen nach Heimat in uns angelegt hat, damit wir heimkommen.
Noch eins zum Schluss damit meine Vorabbemerkung nicht allzu einsam dasteht: der Heimatbegriff wurde in der Geschichte oft propagandistisch missbraucht. Dabei ist aber wichtig anzumerken, dass Heimatverehrung mit Vaterlandsliebe nichts mehr gemein hat. Oder wie Kurt Tucholsky es so schön formuliert [6] :
„Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. […] Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“
In meinem Deutschland liege ich nun in der Hängematte in unserem Hof, während die Sonne ihre letzten Strahlen auf mich scheinen lässt. Um mich herum Herzensmenschen in ihrem eigenen Alltagstreiben. Vielleicht könnte das Heimat sein.
[1] https://vimeo.com/14990295
[2] https://karocloudvillager.wordpress.com/2015/12/23/oz-15-ankommen/
[3] de.wikipedia.org/wiki/Heimat
[4] https://www.bpb.de/lernen/grafstat/projekt-integration/134586/info-03-05-was-ist-heimat-definitionen
[5] de.wikipedia.org/wiki/Engramm
[6] https://www.textlog.de/tucholsky-heimat.html

Karo. 24. Unterwegs, um Abenteuer und Alltag zu kombinieren. Dabei auf der Suche nach der Bedeutung von Heimat – sowohl auf der Erde als auch in Gottes Gegenwart. Hat gelernt, dass Sternstaubmomente meistens in der Unvorhersehbarkeit und auf Umwegen zu finden sind.
Das Beitragsfoto hat Vanessa geknipst.
Ein Gedanke zu „Könnte es sein, dass Heimat vielleicht nur Neurobiologie oder gar reine Utopie ist?“