Die Nachrichten sind in letzter Zeit voll. Ein Thema dominiert schon seit Wochen, wenn nicht sogar Jahren: Im Newsfeed, in der Tagesschau, in der Zeitung, im Radio. Der 29. März rückt immer näher und so langsam herrscht Nervosität. Die Rede ist vom Brexit. Da ich lange in dem Land gelebt habe, das momentan so viele umtreibt, liegt mir das Thema besonders am Herzen. Es ist zwar politisch sehr brisant, aber ich möchte es mal von einer etwas anderen Seite beleuchten. Ich nehme dich mal gedanklich zwei Jahre mit zurück.
Ich bin in der Kirche. Als Deutscher in einer Kirche in England. Vor einigen Jahren wäre das unmöglich gewesen.
Die Kirchenbänke sind bis auf den letzten Platz besetzt. Um mich herum haben viele Menschen Mohnblumen an ihre Jacken gesteckt. Es ist der 13. November 2016. Rememberence Sunday. In Deutschland: Volkstrauertag. Zwei Minuten der Stille. Alle stehen auf. Zeit zum Nachdenken. Mir geht vieles durch den Kopf:
Hier in England wird der Volkstrauertag ziemlich groß gefeiert. Wochen vorher werden vor Supermärkten, in Kirchen und öffentlichen Einrichtungen Plastik Mohnblumen zum Anstecken verkauft. Als Zeichen der Erinnerung an die beiden Weltkriege. Diese tragen viele schon eine Woche vor dem eigentlichen Tag. Immer wieder habe ich mich gefragt wieso. Plakate erinnern einen überall, immer wieder an diesen Tag. In Deutschland habe ich den Volkstrauertag oft nur am Rande mitbekommen. Zum ersten Mal erlebe ich diesen Tag bewusst. Bewusst wird mir, dass es ein riesiges Privileg ist, dass ich in einem Land leben kann, das früher mit meinem Heimatland verfeindet war. Wir Deutschen haben ihr Land zerbombt und sie unseres.
Doch heute ist von Feinschaft nichts mehr zu spüren. Das totale Gegenteil: Überall werde ich als Deutscher herzlich aufgenommen. Hier in London treffe ich Menschen unterschiedlichster Nationalitäten. Das ist völlig normal. Ich darf mich glücklich schätzen in einer Zeit zu leben, in der ich keinen Krieg erleben muss. Keinen Krieg wie den ersten und zweiten Weltkrieg. Ich konnte nach England reisen, ohne mir Gedanken um Visa und sonstige Anträge machen zu müssen. Ich habe Freunde verschiedenster Nationalitäten. Ich muss keine Angst haben, dass ich in irgendeiner Form benachteiligt werde, weil ich Ausländer bin.
Das alles lerne ich gerade sehr zu schätzen. Vor allem am “Rememberence Sunday”. Unterschiedlichste Nationalitäten. Menschen aus allen Kontinenten der Erde. Alle friedlich unter einem Dach vereint. Alle gedenken gemeinsam eines der größten Verbrechen der Weltgeschichte.
So etwas wie die beiden Weltkriege darf nie wieder passieren! “Wie auch?”, denke ich mir. Wenn man sieht, was für heftige Konsequenzen ein solcher Hass nach sich ziehen kann, wird doch wohl niemand so blöd sein, das hier alles wieder kaputt machen. Es zu wiederholen. In welcher Form auch immer.
Doch wenn ich mir die Nachrichten anschaue und die Entwicklungen in den unterschiedlichsten Ländern, die alle irgendwie in dieselbe Richtung gehen, werde ich echt traurig. All das Aufeinander-Zugehen. Alles, was sich in Europa seit 1945 Stück für Stück entwickelt hat, scheint sich gerade genauso Stück für Stück wieder zurück zu entwickeln.
In der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg sind Länder wieder aufeinander zugegangen und haben gemerkt, dass ein Gegeneinander niemandem etwas bringt. Doch die Vorteile eines Miteinanders werden immer mehr zur Normalität und man schätzt es immer weniger. Vielmehr sieht man nur noch die Nachteile und Probleme. In vielen Ländern sind deshalb Parteien/Bewegungen im Vormarsch, die für Spaltung, Gegeneinander und Hass stehen. Wir müssen aufpassen, dass wir das hart erarbeitete der letzten Jahrzehnte nicht kaputt machen, indem wir den Mund halten, weil wir denken: “So weit wird es schon nicht kommen.“
Wir als Christen sollten für ein Miteinander und Liebe werben, doch oft habe ich das Gefühl, dass damit hinter den Kirchenmauern Schluss ist. Wir haben Angst anzuecken. Angst als komisch angesehen zu werden. Es ist viel bequemer, daheim zu sitzen und sich auf dem Sofa vor dem Fernseher über die schlimme Welt da draußen aufzuregen.
Wo müsste ich eigentlich mal den Mund aufmachen?
An der Bushaltestelle, wo der Junge gerade rumgeschubst wird?
Im Zug, in dem sich gerade die Sitznachbarn über Ausländer beschweren?
Beim „Prof-bashing“ nach einer weiteren langweiligen Vorlesung?
Wo kann ich einen Unterschied machen?
Halte dich vom Bösen fern und tu Gutes; setze dich für den Frieden ein und verfolge dieses Ziel mit ganzer Kraft.
Ps 34,15