Es schneit. Richtig dicke Flocken. Es hat die ganze Nacht durchgeschneit. Die schneebedeckte Straße mit den angrenzenden Vorgärten und Häusern, beinahe unberührt am frühen Morgen, strahlt eine umgreifende Ruhe und Frieden aus. Als wäre es schon immer so weiß und gleichmäßig gewesen und als würde es sich niemals mehr ändern. Leider bin ich etwas in Eile, muss das Auto noch freikratzen und vom Schnee befreien, um dann zügig in die Klinik zu fahren. Zurzeit mache ich eine Famulatur. So nennt man ein fünfwöchiges Praktikum als Medizinstudierender. Eine prima Möglichkeit, Sachen auszuprobieren, um mich am Ende des Studiums entscheiden zu können, in welchem Fachgebiet ich mich spezialisieren möchte. Und gleichzeitig eine Möglichkeit, neue Orte, neue Menschen und Lebensweisen kennen zu lernen. Daher befinde ich mich gerade in Obersöchering, einem 1500-Menschen-Dorf in der Nähe von Garmisch und der Zugspitze im bayrischen Oberland, also quasi weder in, noch vor den Alpen. Vielleicht eher an den Alpen.
Während ich fröstelnd ins Auto steige, fällt eine Schneeflocke auf meinen Ärmel, genau wie die vielen Hundert vor ihr, als ich mit dem Eiskratzer etwas hektisch um das Auto herum tanzte. Ich würdige sie mit einem beiläufigen Blick, will sie schnell abstreifen, doch dieses kleine Naturwunder erregt plötzlich meine Aufmerksamkeit.
Ein klassisches Schneeflocken-Erlebnis. Sicherlich hattet ihr das auch schon! Man sagt ja, jede Schneeflocke sei einzigartig. Das konnte ich noch nicht prüfen, aber ich gehe mal davon aus, dass es stimmt. Sie liegt da einfach so auf meinem blauen Ärmel: So perfekt, so schön, so symmetrisch, so filigran und zerbrechlich, so schüchtern und bescheiden – ein Stück Himmel. Irgendwie auch einsam und verloren zwischen den anderen, von denen die meisten viel dicker, plumper und klumpiger sind. Wenn ich zu lange hinsehe, entwickle ich Muttergefühle für das zarte Ding. Ich berühre sie mit einem Finger, sie haftet kurz daran. Und dann stirbt sie, beziehungsweise schmilzt und ist Geschichte.
Ein kleines Naturwunder, nur für einen ganz kurzen Moment. Völlig zufällig und überraschend, obwohl ja Millionen dieser Teile vom Himmel fallen, ohne dass dem Treiben besondere Beachtung geschenkt wird.
Auf dem Weg zur Klinik fahre ich geradewegs auf das gigantische Bergpanorama zu, dass bei anbrechendem Tageslicht nochmal besonders mächtig und verheißungsvoll aussieht. Von dieser einen Schneeflocke, die ich so bewundere und von den Millionen, die gerade herunterfallen, müssen Abermillionen auf diesen weißbedeckten Gipfeln liegen.
Was für eine Verschwendung, oder?
So viele ästhetische Meisterstücke in Form von perfekt geformten Kristallen, die einfach in der Menge verschwinden.
In etwa 15 Minuten werde ich über die Türschwelle der Klinik steigen und eine völlig andere Welt betreten. Verschwenderische Schönheit und Natur-Ästhetik scheinen dort fremd. Es geht ums Verbessern, Optimieren, Wiederherstellen und Entwickeln von Gesundheit und Wirtschaftlichkeit. Ästhetik ja, aber nur wenn es dem Zweck dient. Eine ästhetische Hautnaht kostet Zeit und damit Geld, aber sie macht weniger hässliche Narben. Ergo, eine höhere Patientenzufriedenheit, damit ein besseres Image und schließlich ist sie förderlich für Gesundheit und Wirtschaftlichkeit. Man lernt im Krankenhaus viel über Krankheiten und Heilungsmethoden, aber man lernt auch ein gewisses Denken: Geprägt von der rationalen Machbarkeit des Menschenmöglichen. Hohes Niveau, knappe Ressourcen. Auf allen Ebenen: technisch, zeitlich, räumlich, medizinisch, menschlich usw.
Nachmittags verlasse ich die Klinik wieder, schaue auf die Berge und die weißen Gipfel in der untergehenden Sonne. Wie oft es wohl schon so einen Sonnenuntergang gab? Wie oft die Berge schon Massen an wundersamen Schneeflocken aufgenommen haben und wie oft sie wieder geschmolzen und verschwunden sind? Wie lang sind die Berge schon da und wie wenig kümmert sie unser selbstgemachter Optimierungswahn?
In der Natur herrschen anscheinend ganz andere Prinzipien: Berge waren schon immer so und bleiben so, die Sonne geht immer wieder auf und unter, im Winter fallen Millionen von einzigartigen, wunderartigen Schneeflocken herunter, um bald wieder zu verschwinden – es gibt keinen Fortschritt, keine Optimierung, keine Entwicklung.
Es bleibt konstant, es ist immer wieder das gleiche und trotzdem, oder gerade darum, überwältigend, ästhetisch und wunderbar. Ein Kontrast zur Klinik und zur Schnelllebigkeit, die an anderen Orten ebenso spürbar ist. Zwei Welten. Ein Spannungsfeld.
Als Christ gehe ich davon aus, dass Gott die Welt gemacht hat. Wie genau, keine Ahnung, mehr als genug Leute streiten darüber. Manche Christen halten an der 6-Tage-Schöpfung fest. Bei anderen hat sich Urknall und Evolutionstheorie als Erklärungsmodell und gesellschaftlicher Kontext etabliert. Wieder andere suchen Kompromisse und Zwischenlösungen. Die wissenschaftliche Forschung geht bei der Suche nach Ursachen und Erklärungen in dieser Frage so vor, als würde Gott nicht existieren. Das ist eine grundsätzliche Regel, die unerlässlich ist, wenn man seinen Messungen und Daten vertrauen will. In der Klinik und in der Medizin gilt das ebenso. Man forscht und therapiert so, als würde es Gott nicht geben. Das bedeutet, es ist gar nicht so leicht, einen konsequenten Glauben und hochqualifiziert-professionelle Top-Medizin ineinander zu bringen. Ich merke das jeden Tag. Es verstärkt das „Zwei-Welten-Gefühl“.
Und das Denken der Machbarkeit, das mir im Krankenhaus begegnet und das ihr sicher von anderswo kennt, sät Zweifel: Braucht man Gott eigentlich? Gibt es ihn überhaupt? Ich behaupte, dass man Gott den überwiegenden Teil seines Lebens nicht spürt und keinen unmittelbaren, gegenwärtigen Anhaltspunkt für seine Existenz hat. Man beruft sich als Christ, was Glaubensgewissheit angeht, also hauptsächlich auf die Vergangenheit und die dort gemachten Erfahrungen. Außerdem hat sich über die Jahrhunderte gezeigt, dass es im Punkt Gotteserfahrung verschiedene Typ-Menschen gibt, die Gott verstärkt und gehäuft auf bestimmte Arten begegnen. Zum Beispiel ein Asket-Typ durch Verzicht, oder ein kontemplativ veranlagter Mensch durch Gebet und Meditation, oder ein anderer durch praktische Nächstenliebe. Eine Möglichkeit ist auch, Gott in der Natur zu begegnen.
Mir geht es oft so. Wenn mir Zweifel oder andere existentielle Fragen hochkommen reicht oft die Sonne, oder ein Berg, oder nur eine Schneeflocke, um jeglichen Zweifel an Gottes Existenz zu verscheuchen. Wenn ich die Natur bestaune, kommt mir die Nicht-Existenz Gottes sehr, sehr unwirklich und unrealistisch vor. Man könnte einwenden: die Sonne – sei doch logisch – Urknall, Physik, die Erde dreht sich, Wasserstoffkernfusion et cetera; und Berge – klar – tausende Jahre Erdplattenverschiebung, Magmaströme et cetera; und Schneeflocken – easy – kristalline Ordnung von Wassermolekülen.
Aber, was ich nicht begreife: warum sind diese Sachen so verdammt überschwänglich schön?
Manche versuchen für Gott zu werben, indem sie zeigen, wie unwahrscheinlich die Entstehung und Werdung unserer Welt ist und wie fragil die Naturkonstanten sind. Das hat mich noch nie überzeugt. Aber diese Ästhetik und zeitweise Verschwendungssucht von Schönem, die die Natur an den Tag legt, kommt mir sehr göttlich vor. Ich glaube, Gott hat das absichtlich gemacht, damit wir etwas über ihn lernen. Was ist das für ein Gott der sich Schneeflocken ausdenkt, von denen nur die wenigsten wahrgenommen werden und selbst diese so schnell vergehen? Ungesehen, unbeachtet, ohne Lohn, ohne Anerkennung, ohne einen nützlichen Zweck. Machen wir auch noch so etwas zweckfremdes Schönes, oder sind wir dabei das zu verlernen?
Man muss kein Genie sein, um darauf zu kommen. Es reicht völlig, sich Bierwerbung im Fernsehen anzuschauen! Kennt ihr noch die Jever-Werbung von 2015? „Wenn du das Meer gemacht hättest, hättest du es zahm gemacht? Wenn du den Wind gemacht hättest, hättest du ihn lau gemacht?“ Ein zahmes Meer wäre definitiv besser nutzbar für Schifffahrt, Tourismus, weniger Sachschäden, weniger Tote. Lauer Wind reist keine Häuser fort und hinterlässt keine heimatlosen Menschen und Trümmerhaufen. Hättet ihr das Meer wirklich wild gemacht? Zahm könnte es uns Menschen dienlicher sein, weniger zerstörerisch und es wäre viel effektiver. Hat Gott im Meer vielleicht ein Zeichen für seine Macht und Gewalt gesetzt?
Andererseits: Habt ihr schon mal einen Sonnenuntergang am Meer genossen, wenn der ewige Horizont, langsam die Sonne verschluckt, die dir eine rot-gelbe Straße über das weite Meer zu Füßen legt? Wer denkt sich sowas aus?
Die Natur ist ein Kontrastprogramm zu unserer schnelllebigen und effizienzorientierten Alltagsrealität. Gott redet durch Natur und zeigt uns, wie er ist. Haltet danach Ausschau!
Euer Lukas!
Inspiration durch Römer 1,18ff. und Psalmen
Beitragsbild: Lukas Sander