Schubladen im Kopf

Es ist der 1. Oktober. Ich stehe gemeinsam mit rund 50 anderen Gleichaltrigen vor einer verschlossenen Tür, die mit „I0.15“ beschriftet ist. Eine interessante Szene, die sich dieser Tage wohl auch an vielen anderen Orten in Deutschland abspielt. Eine Situation, die ich in meinem 21-jährigen Leben schon so oft miterlebt habe.

Verunsichert stehen im Flur 50 junge Menschen. Bis auf drei Mädels, die sich offensichtlich schon kennen, redet niemand.

Die einen schauen auf ihr Handy. Andere starren gedankenverloren in die Luft. Manche hören Musik. Wieder andere sitzen zusammengekauert auf dem Fußboden.

Immer wieder schweifen Blicke den Raum hoch und wieder runter.
Unsichere Blicke. Analysierende Blicke. Hoch. Runter. Rechts. Links. Wieder aufs Handy. Rüber zu dem Typen, der gerade mit verschlafenem Blick in den Flur kommt. Auf die andere Seite zu dem Mädel, das noch ein letztes Feintuning am Makeup betreibt.

Wer wird wohl der Klassenclown? Wer der Ober-Streber? Wer ist wohl der, der das Studium direkt wieder schmeißt? Wer ein guter Freund?

Hornbrille. Zurückgegelte Haare. Rollkragenpullover.
Stempel drauf. Schublade auf. Schublade zu.

Müder Blick. Hoodie überm Kopf. Jogginghose.
Stempel drauf. Schublade auf. Schublade zu.

Unterbewusst schiebe ich Stück für Stück immer mehr Menschen aus dem schweigenden Trupp vor dem Vorlesungssaal in meine Schubladen.

Analysiere. Vergleiche. Bewerte. Beurteile. Verurteile?

Vorurteile. Jeden Tag bin ich damit konfrontiert. Nicht nur auf dieser Erstsemester-Veranstaltung. Jeden Tag. Beim Einkaufen. Beim Autofahren. Überall, wo ich mit anderen Menschen zu tun habe, erwische ich mich beim selben Muster.

Analysieren. Vergleichen. Bewerten. Beurteilen.

Leider macht dieses Verhalten in christlichen Gemeinden keinen Halt. Ich würde fast behaupten, dass wir Christen darin Profis sind.

Was würde in meiner Gemeinde passieren, wenn auf einmal ein ungepflegter Mann mit Bierflasche in der Rechten und Kippe in der Linken in den Gottesdienst käme und sich in die 1. Reihe setzen würde? Was wäre, wenn ein Mörder zum gemütlichen Lobpreisabend kommt und in der Zeugnisrunde voll auspackt? Wie würden wir im Jugendkreis eine Frau mit Kopftuch aufnehmen?

Würden wir diese Menschen freudig, mit offenen Armen empfangen? Ihnen zeigen, dass sie geliebt sind? Oder wären diese Personen später beim gemütlichen Sonntags-Kaffeetrinken das Gesprächsthema Nummer eins? Wie lange braucht es, bis diesen Personen in meinem Kopf einen Stempel aufgedrückt wird und sie in Schubladen verräumt sind?

Nach außen tun viele von uns so, als wären wir alle glatt polierte, brilliante, reine Diamanten. Ohne auch nur einen Markel. Nicht mal ein kleines Staubkorn. Keine Fehler. Immer super-fromm. Stille-Zeit-Profis.

Ach ja. So eine klitzekleine Notlüge unterläuft mir ab und zu doch mal. Aber das ist ja bloß halb so wild.

Doch ein ehrlicher Blick in mich hinein zeigt, dass ich höchstens ein Kieselstein bin. Ein kleiner von der Zeit und Erosion gezeichneter Rhein-Kiesel. Hier eine Kante. Dort eine unschöne Alge.

Wie kann es sein dass wir Christen, die eigentlich kapiert haben sollten, dass wir Fehler machen, uns nicht einmal trauen offen mit diesen Fehlern umzugehen?

Haben wir immernoch nicht kapiert, wieso Jesus auf diese Erde gekommen ist?
Haben wir immernoch nicht kapiert, warum Jesus uns ein beispielhaftes Leben vorgelebt hat?
Haben wir immernoch nicht kapiert, warum Jesus qualvoll am Kreuz sterben musste?
Haben wir immernoch nicht kapiert, warum Jesus nach 3 Tagen wieder auferstanden ist?

Wieso wird dann im stillen Kämmerchen weiterhin über Ehebrecher, Psychisch-Kranke, Homosexuelle und Alkoholabhängige getuschelt? Sollten wir nicht lieber offen mit unseren „Problemen“ umgehen? Sünden bekennen? Die Vergebung Gottes annehmen?

Anstatt zu Analysieren. Vergleichen. Bewerten. Beurteilen. Verurteilen.
Andere Ermutigen. Helfen. Beten. Aufbauen. Trösten. Begleiten.

Wäre es nicht ein Armutszeugnis, wenn Menschen nur aus dem Grund nicht glaubten, weil sie schlechte Erfahrungen mit anderen Christen gemacht haben? Mit wem hat Jesus die meiste Zeit auf der Erde verbracht? Waren es die super Frommen oder die von der Gesellschaft verstoßenen Randgruppen?

Meine Frage dieses Woche: Wie schalte ich dieses Schubladen-Denken ab?

Photo Credits: Philipp Jenny

Author: Philipp Jenny

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