Kannst du dich noch erinnern, wann du das letzte Mal in eine ganz neue Situation gestolpert bist? Also richtig neu, neuer Ort, neue Menschen, neuer Lebensabschnitt, vielleicht sogar eine andere Sprache? Unter Umständen musstest du mal die Schulklasse wechseln oder den Arbeitsplatz? Und bestimmt kannst du dich an den ersten Tag im Studium, oder in der Ausbildung erinnern! Manchmal hat man das Glück, dass alle neu sind. Dann fällt es vielleicht leichter, sich zu integrieren, weil alle dasselbe Problem haben. Aber es gibt auch die Situationen, in denen es so scheint, als würden alle sich kennen, nur du bist neu und fremd. Versuch dich zu erinnern, was dir da durch den Kopf ging?
In der Regel startet man einen ultrastressigen Versuch, um irgendwie Anknüpfungspunkte zu suchen. Ist da jemand, mit dem ich reden kann, was läuft hier, wie soll ich mich verhalten? Die krampfhafte Suche nach sozialer Orientierung. Das sind oft sehr lange Momente. Zeitlupenmomente. Und zwar keine coolen wie bei Matrix, sondern solche, in denen ich mich selbst sehr verlangsamt wahrnehme, während für alle anderen nur ein Wimpernschlag vergeht und sie sich ausgelassen weiter unterhalten. Ich will mich nicht dazwischen drängen, keinen aufdringlichen Eindruck hinterlassen. Und dann stehe ich manchmal da und weiß nichts mit mir anzufangen. Will auch nicht auf’s Handy schauen, weil ich ja Gesprächsbereitschaft signalisieren möchte. Solche, zum Glück nicht allzu oft vorkommende Situationen fördern die Hilflosigkeit, Unsicherheit, Verletzlichkeit und Einsamkeit sozialer Isolation zu Tage. Je länger es dauert, desto unangenehmer wird es einem selbst. Und das alles in der Öffentlichkeit, nicht irgendwo in einer idyllischen, verklärt-verlassenen Gegend, sondern mittendrin. Ein kleiner Einblick in die Alltagsrealität von vielen alten und kranken Menschen in Deutschland, die irgendwie vom Treiben der Gesellschaft überholt und stehengelassen wurden.
Wer sieht mich? Wer interessiert sich für mich? Bin ich jemandem wichtig?
Bei mir sind solche Situationen zum Glück kein Dauerzustand, aber ich würde mir wünschen, dass es sie gar nicht geben würde. Zu schnell entstehen dabei Unwohlsein und vielleicht sogar kleine Verletzungen und Kränkungen. Dieses Thema beschäftigt mich, weil es so viele betrifft. Deswegen versuche ich mich für solche Situationen und Menschen zu sensibilisieren und überlege wie man das z.B. auch in meiner Gemeinde ins Bewusstsein aller rücken könnte. Ich bin sicherlich kein Meister darin, aber wer nicht losgeht, kommt niemals an. Das ist letztlich auch der Anlass, darüber einen Beitrag zu schreiben.
Das Bedürfnis wohlwollend gesehen und wahrgenommen zu werden ist ganz tief in uns Menschen verankert, von Anfang an. Kleinere Kinder teilen ihren Unmut darüber noch sehr direkt mit, aber mit steigendem Alter gewöhnt man sich das ab, obwohl das Bedürfnis danach bleibt. Natürlich braucht auch jeder seine Privatsphäre und in manchen Situationen bildet man einfach einen stillen Konsens darüber nicht wahrgenommen zu werden, zum Beispiel an der Bushaltestelle. Aber im Großen und Ganzen wollen wir wahrgenommen werden. Manche dürfen und sollen sogar etwas tiefer in uns rein schauen, wie gute Freunde und Familie, und von manchen will man einfach nur beachtet werden.
Zwangsläufig kommen wir im Leben in besonders vulnerable Situationen, in denen wir plötzlich viel weniger gesehen und wahrgenommen werden. Einige habe ich oben beschrieben: bei einem Umzug oder Auszug, beim Wechsel eines Arbeitsplatzes, wenn Beziehungen in die Brüche gehen und es gibt viele mehr; meistens wenn man Gewohntes verlässt oder verliert. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie sich das für Geflüchtete anfühlt, die unfreiwillig nach Deutschland kommen.
Ich bin davon überzeugt, dass sich aus einem bewussten Leben mit Jesus, nach seinen Vorstellungen eine Liebe für Menschen aller Art entwickeln kann, die so neuartig und revolutionär ist, dass man staunt was damit alles geht. Eine Parole, die mir wichtig geworden ist, lautet: Das Verlorene sehen! Übrigens eine der Hauptbeschäftigungen Gottes. Und besonders in diesen Situationen öffentlicher Einsamkeit sind wir ziemlich verloren. In meinem Umfeld sind es zurzeit vor allem Studierende, die davon betroffen sind. Die, die neu nach Heidelberg kommen, sich ein neues Lebensumfeld aufbauen müssen und bei uns in der Kirchengemeinde vorbeischauen, Erasmus-Studierende, die Anschluss in der Uni und in Deutschland suchen, und es gibt etliche mehr, man muss nur mal genau hinschauen. Wer könnte das bei dir sein?
Wenn wir Christen Gottes Liebe in die Welt tragen wollen, müssen besonders wir gegen soziale Isolation vorgehen. Auch im großen Stil, aber fang doch mal klein an – in deinem Freundeskreis, auf der Arbeit, in deiner Familie und ganz besonders in der Kirchengemeinde.
Euer Lukas
Photo by Daniel Jensen on Unsplash