Socken in Sandalen


Sommer 2018
Die Ferien haben begonnen und ich möchte zusammen mit meiner Familie in Norddeutschland surfen gehen. Um zu ihnen zu fahren, habe ich mir eine günstige Sparpreis-Zugverbindung zu “unbeliebten Zeiten” rausgesucht. Es ist vier Uhr morgens als mein Wecker klingelt und meinen viel zu kurzen Schlaf beendet.

Da um diese Uhrzeit noch keine Straßenbahn fährt, schnalle ich mir meinen Rucksack auf und lege den Weg zum Hauptbahnhof zu Fuß zurück. Als ich gerade durch eine kleine Seitenstraße gehe, fährt ein Fahrradfahrer an mir vorbei. Der Mann trägt ein halb aufgeknöpftes, weiß-blumiges Hawaii-Hemd und hat seine mittellangen, dunklen Haare zu einem Dutt hochgebunden. Sein südländischer Teint lässt mich vermuten, dass er womöglich aus einem anderen Land kommt. Unsere Blicke treffen sich und ganz automatisch lächle ich ihn etwas verhalten an.

Sein Blick bleibt auf mir haften und ich fühle mich schlagartig unwohl. Die menschenleere Straße, die früh-morgendliche Dämmerung und das Verlangsamen seines Fahrrads während er mich anschaut, lassen schiere Panik in mir aufkommen. Mein Herz pocht schneller und ich gehe, versucht selbstbewusst und stark zu wirken, die Straße weiter und entscheide mich dazu, den Mann einfach zu ignorieren. Da spricht er mich an: „Ich kann tragen deine Rucksack. Ich kann hier rauf machen.“ Dabei zeigt er auf den Gepäckträger seines klapprigen Fahrrads. Sein gebrochenes Deutsch bestätigt meine Vermutung, dass er gebürtig nicht aus Deutschland komme. Freundlich erwidere ich: „Nein danke, das geht schon.“ Er setzt erneut an: „Wirklich, ist kein Problem. Ist gleicher Weg. Ich wohne nah Bahnhof.“

Wie würdest du dich an meiner Stelle entscheiden?

Eine Zugfahrt, die ist…
Der ICE rast mit einer Geschwindigkeit von 190 Stundenkilometern durch Deutschland. Ich habe einen freien Sitzplatz in einem Sechser-Abteil gefunden. Mit mir kommt ein Mann im Hemd um die 60 in das ansonsten leere Abteil und setzt sich auf den Fensterplatz. Kurze Zeit später erscheint eine ausländisch-aussehende Frau in der Tür und weist den Mann freundlich darauf hin, dass sie die vier Plätze am Fenster reserviert hat. Der Mann beginnt zu diskutieren. Er vermutet, dass ein Fehler vorliegt. Die Frau bleibt beharrlich, aber freundlich. Plötzlich redet der Mann (allen Ernstes) in sehr schlechtem Englisch mit ihr, obwohl die Frau zuvor gut verständliches Deutsch gesprochen hatte. Sie hört sich seinen erneuten Protest ruhig an und holt ihre Tickets hervor, auf denen die reservierten Sitzplätze verzeichnet sind. Der Mann behauptet weiterhin, dass die Frau einen Fehler macht und sie die Wagen verwechselt hat.

In diesem Moment treten drei Kinder hinter der Frau hervor. Wütend keift der Mann die Frau an: „Was? Sie wollen hier gleich vier Plätze einfach so in Beschlag nehmen?“ Sich mutig aufrichtend und schützend vor ihre Kinder stellend hält sie ihm ihre Tickets hin und antwortet: „Ja, das möchte ich. Ich habe diese Plätze ja auch reserviert.“

Die Tickets keines Blickes würdigend, trotzig und weiterhin behauptend, dass er im Recht sei, verlässt der Mann aufgebracht das Zugabteil. Verzweifelt blickt die Frau mich an. „Nur, weil ich Ausländerin bin. Immer, wenn sie uns sehen, meinen sie, dass wir dumm seien und nicht das gleiche Recht hätten, einen Sitzplatz einzunehmen. Ich bezahle doch das gleiche Geld wie er.“

Wie würdest du an meiner Stelle reagieren?

Roadtrip mit einem Syrer
Ganz spontan entschließe ich wieder einmal in den hohen Norden zu fahren. Da Zugverbindungen, je kurzfristiger sie gebucht werden, umso teurer sind, recherchiere ich vorerst, ob ich eine günstige Mitfahrgelegenheit finde. Tatsächlich ist dort ein Inserat von Heidelberg nach Hamburg vermerkt. Ich klicke darauf und lese mir den kurzen Infotext des Fahrers durch. Er heißt Hussam und ist 45 Jahre alt. Sein Foto bestätigt meine Vermutung, dass er ausländische Wurzeln hat.

Ich wehre mich gegen das, in mir aufkommende, mulmige Gefühl. Ich möchte nicht, dass die Herkunft des Fahrers dafür ausschlaggebend ist, ob ich mitfahre. Ich warte ab. Einige Stunden später werden zwei weitere, für die Fahrt angemeldete Mitfahrer angezeigt. Gut, dann bin ich immerhin nicht alleine im mit dem Mann im Auto. Ich schaue ins Inserat. Die beiden angemeldeten Mitfahrer heißen Aaliyah, 21 Jahre alt und Ibrar, 29 Jahre alt. Es ist noch ein Platz zu haben. Ich muss mich entscheiden.

Wie würdest du dich an meiner Stelle entscheiden?


In der ersten Situation fühlte ich mit Vorurteilen konfrontiert, die mein Denken und Handeln beeinflussten. Vorurteile wie „Der Typ wird mir meinen Rucksack klauen und dann auf seinem Rad davonfahren.“ Oder „Der Typ will doch eh nur ein Date mit mir, weil ich eine junge weiße Frau bin.“

In der zweiten Situation ließ dieses, von Vorurteilen geprägte Denken den Herren aus dem Zugabteil meinen, dass er selbstverständlich im Recht sei, wenn er behauptete, dass die ausländisch aussehende Frau einen Fehler machte. Er dachte nicht einmal darüber nach, dass der Fehler womöglich auf seine Seite liegen könne.

Und in der dritten Situation? Nun ja, sie waren wieder da. Die Vorurteile. „Der Fahrer ist ein Ausländer. Bestimmt hat er das Auto geklaut und fährt völlig katastrophal.“ Oder „Vielleicht greift der Fahrer mich während der Fahrt an oder entführt mich.“

Vorurteile. Gedanken, die ich ohne Prüfung der objektiven Tatsachen voreilig fasste oder von jemand anderem übernahm. Rassistische Gedanken.
Gedanken, die mich nicht länger beeinflussen sollten!

Ich klickte auf „Fahrt buchen“ und traf mich am nächsten Morgen mit Hussam am ausgemachten Treffpunkt. Er war s-e-h-r freundlich. Wir unterhielten uns fast die ganze Fahrt lang. Er erzählte mir von seiner Kindheit und Jugend in Syrien, seinem Studium in Deutschland, seinen Eltern, die dort trotz Krieg immer noch lebten und von seiner Frau und seinen beiden Kindern.

Später sammelten wir Aaliyah ein. Sie war eine aufgeschlossene, hübsche junge und richtig witzige Frau, deren Eltern aus Afghanistan nach Deutschland gekommen waren. Eine Stunde später kam noch Ibrar dazu. Er kam gebürtig aus Syrien, hatte bereits in sieben verschiedenen Ländern gelebt und dafür jedes Mal die jeweilige Landessprache gelernt.

Wir unterhielten uns viel über unsere Kulturen und Bräuche. Dann tauschten wir lustige Vorurteile über die Kultur der jeweils anderen aus. Wir stellten dumme Fragen, bekamen ehrliche Antworten und lachten sehr viel. Ich stellte fest, dass wir alle irgendwie Vorurteile hatten. Es war so schön, darüber sprechen zu können und sich eines Besseren belehren zu lassen.

Eure Greta,
die auf der Autofahrt festgestellt hat, dass sie so gar nicht den Vorurteilen über “die Deutschen” entspricht.

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