In unserer AP-Serie „Back to the Roots“ posten wir bis zum Ende des Jahres die Top-Beiträge vom ersten Jahr Alltagspropheten. Das heißt, alle die neu dazu gekommen sind, kommen auch in den Genuss diese kennenzulernen. Und ihr treuen Leser, die von Anfang an dabei waren… vielleicht entdeckt ihr ja etwas Neues!
Heute gehts weiter mit einem Beitrag vom Juli 2019.
Wenn man früher in der Grundschule sein Freundebuch auch mal einem Erwachsenen ausgeliehen hat, so lautete die Antwort bei der Rubrik „was du später werden willst“ häufig: zufrieden. „Wie langweilig“, fand ich als Kind. Nichts Spannendes wie Pilot oder Feuerwehrmann. Und außerdem hatte die Person nicht verstanden, dass die Frage auf einen Berufswunsch abzielte.
Mittlerweile sind seit meiner Grundschulzeit ein paar Jahre vergangen und ich habe verstanden, dass bei „zufrieden“ mehr dahintersteckt, als eine bloße Floskel. Gleichzeitig war ich neulich auf einer Kulturveranstaltung, wo ein Künstler von einem Moment seines Lebens erzählte, als er persönlich den bisher größten Frieden verspürte. Das hat mich ebenfalls an eine Episode aus meiner Schulzeit erinnert, nicht aus der Grund- sondern von der weiterführenden Schule. Ich habe eine ähnliche Situation erlebt, die mir fast in Vergessenheit geraten wäre. Doch das ist sie nicht und deshalb möchte ich heute davon erzählen.
Ein kleiner Hinweis noch: es könnte bewegend werden.
Es ist Sommer, ungefähr dieselbe Jahreszeit wie jetzt. Nur noch nicht so unmenschlich heiß, da die Rekord-Hitzesommer noch ein paar Jahre auf sich warten lassen. Es ist Freitag, der 13. Juli 2012. Nur noch wenige Wochen bis zu den Sommerferien. Das Schuljahresende rückt näher und somit auch die Vorfreude auf die freie Zeit. Doch vorher stehen neben den letzten Klassenarbeiten noch die Aufführungen mit der Theater AG an. Aktuell läuft unsere intensivste Probenphase. Glücklicherweise wurden wir vom Unterricht dazu freigestellt.
Es ist mein erstes Jahr in der Theater AG. Aufgrund eines Projektes im Jahr zuvor, basierend auf der Lektüre von Wilhelm Tell, bin ich auf den Geschmack gekommen und habe gewagt, mal etwas Neues auszuprobieren. Wir sind eine tolle Truppe. Bunt gemischt und motiviert. Vor allem viele aus meinen Parallelklassen, die ich vorher noch nicht, dafür jetzt aber umso besser kennenlerne. Als einer von drei Jungs war mir eine gute Rolle in unserem teilweise selbst kreierten Stück sicher.
Es ist 11 Uhr. Der Vormittag ist fast geschafft. Gleich steht die große Pause an. Ich habe Hunger und muss erstmal aus der Aula, die neben unserem Schulgebäude liegt, raus zur Cafeteria und etwas zu Essen kaufen. Auf dem kurzen Weg nach drüben, reißt mich auf einmal eine Lautsprecher-Durchsage aus meinen Gedanken: „Achtung, dies ist ein Notfall. Gehen Sie in die Klassenzimmer und verschließen Sie dir Türen!“ Das kommt in Dauerschleife. Immer und immer wieder.
Der Vorfall ereignete sich zu der Zeit, als Amokläufe an Schulen in Deutschland und besonders in Baden-Württemberg, ein großes Thema waren. Jener in Winnenden lag erst wenige Jahre zurück.
Uns ist sofort klar, was los ist. Bevor auf den Gängen allgemeine Panik ausbricht, eilen wir zurück in die Aula.
Glücklicherweise hatten wir zur Zeit der Alarmauslösung Pause, da die Aula – warum auch immer – nicht an das Alarmsystem der Schule angeschlossen war. Wir hätten ihn also sonst gar nicht mitbekommen.
Zurück in der Aula macht sich Panik breit. Vor allem unsere Theaterpädagogin ist sichtlich überfordert mit der Situation. Wir sollen uns irgendwo verschanzen, aber nur wo?! Die Aula ist groß und weitläufig mit einer Fensterfront, also nicht die optimale Deckung. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als uns im Keller unter der Treppe zwischen Spinnweben & Co. vorerst in Sicherheit zu bringen. Da sitzen wir also. In diesem dunklen Loch. Ein Haufen von etwa 20 Personen, die damit rechnen, dass jede Sekunde ein Bewaffneter in den Raum stürmt und schießt.
Für viele waren es die schlimmsten zwei Stunden unseres Lebens. Als ich später erfahren habe, dass manche andere Klassen in ihrem Zimmer zum Zeitvertreib mit einem Laserpointer Ziele an der Tafel „abgeschossen“ haben, konnte ich – damals wie heute – meine Fassungslosigkeit nicht in Worte fassen. Aber wer weiß, ob sich das wirklich zugetragen hat und nicht einfach wieder irgendjemand im Nachhinein cool dastehen wollte, da er ja ach so gar keine Angst gehabt hatte – ein beliebtes Motiv nicht nur während der Schulzeit.
Bei uns unter der Treppe ist Spaß jedenfalls undenkbar weit entfernt. Ich werde diesen Moment nie vergessen. Wie wir da sitzen. Zusammengekauert. Einige weinen. Andere trösten sie. Ich tue keines von beidem. Stattdessen bereite ich mich innerlich darauf vor, an diesem Tag, die Erde zu verlassen.
Natürlich hatte ich Angst. Mir war klar, dass ich wehrlos bin, wenn ein Typ mit Waffe vor uns auftaucht. Doch darüber machte ich mir in diesem Moment nicht so genaue Gedanken. Ich verspürte unter dieser Treppe eine innere Ruhe, einen inneren Frieden, wie ich ihn noch nie in meinem Leben vernommen habe. Ich hatte mich darauf eingestellt, zu gehen und es war okay. Man sagt ja, dass in solch existenziellen Momenten das bisherige Leben an einem vorbeizieht. Doch es ist schon zu lange her, als dass ich mich noch daran erinnere, ob mir das auch so erging.
Rückblickend ist es ein Wunder, dass ich in dieser Situation einen solchen Frieden spüren konnte. Sicherlich war ich damals auch so unter Adrenalin, vielleicht auch in einer Art Trance, dass ich meine Umgebung gar nicht mehr richtig wahrgenommen habe. Doch dieser Frieden war da – einmalig und beruhigend. Ich bin mir sicher, dass das nicht aus mir heraus kam, sondern in meinem Glauben, meinem Vertrauen auf Jesus begründet war. Ich durfte erleben, was in der Bibel steht:
Ich habe euch das alles gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. Hier auf der Erde werdet ihr viel Schweres erleben. Aber habt Mut, denn ich habe die Welt überwunden.
Johannes 16,33
Und diese Situation fällt eindeutig unter „Schweres erleben“. Letztendlich hatte sich herausgestellt, das es sich lediglich um einen Fehlalarm handelte. Ein mehr als geschmackloser Streich von ein paar Schülern, die später der Schule verwiesen wurden. Doch zum Zeitpunkt des Alarms wusste das niemand. Schon gar nicht wir, abgetrennt in einem externen Schulgebäude unter der Treppe in der Aula. Sogar das Spezialeinsatzkommando rückte an, mit Hubschrauber und allem drum und dran.
Nach ein oder zwei Stunden öffnet jemand die Tür zur Aula mit einem lauten Geräusch. Jemand schreit. Jetzt ist es wohl vorbei. Plötzlich stehen Bewaffnete vor uns. Es sind Polizisten und das SEK.
Noch heute weiß ich, wie ich damals sichtlich verwirrt war, mittags mit meiner Familie beim Essen zu sitzen. Ich war fest davon überzeugt gewesen, dass ich den Tag nicht überleben würde. Deshalb hatte jedes andere Szenario in meinem Kopf keine Rolle gespielt. Es gab keinen Plan B. Ich stand unter Schock und brauchte eine Weile, um das Erlebte zu verarbeiten.
Auch wenn ich das nicht nochmal erleben will, bin ich doch dankbar, diesen Frieden gespürt zu haben. Es war ein kleiner Vorgeschmack. Wie eine Vorspeise, von der man mehr haben möchte. So sehr, dass man den eigentlichen Hauptgang vergisst. Trotz allem hat mich diese Erfahrung positiv geprägt und ich werde diese Stunden nie vergessen, unter der Treppe in der Aula.
Danke an Riccardo Pelati für das Foto von Unsplash.