Das Schamekel

In unserer AP-Serie „Back to the Roots“ posten wir bis zum Ende des Jahres die Top-Beiträge vom ersten Jahr Alltagspropheten. Das heißt, alle die neu dazu gekommen sind, kommen auch in den Genuss diese kennenzulernen. Und ihr treuen Leser, die von Anfang an dabei waren… vielleicht entdeckt ihr ja etwas Neues!
Heute gehts weiter mit einem unserer ersten Beiträge vom 2. November 2018

Ich sitze hier. Das herrlich warme, blubbernde Wasser umspült samtweich meinen ganzen Körper und schaukelt mich sanft hin und her. Jedes Ausatmen wird zur ultimativen Befreiung, weil der leichte Wasserdruck auf meiner Lunge die ganze Arbeit übernimmt. Nach dem Atemweg-befreienden Dampfbad strömt die Luft wie von selbst durch mich hindurch. Der Nachgeschmack vom Cappuccino, den ich mir eben gegönnt habe, beflügelt meine Geschmacksnerven. Ich könnte mir noch einen bestellen, hier direkt in den Whirlpool – das machen die sogar, außerdem ist es sowieso All-inclusive. Aber ich trinke, glaub ich, lieber einen Espresso zum Nachtisch nach dem fünf-gängigen Abendessen und ein Glas auserlesenen Rotwein.

Ein knappes Jahr zuvor…

Ich sitze hier – nein, eher etwas zwischen Stehen und Sitzen – auf meinem gefrorenen Fahrradsattel. Es ist eiskalt! Ich komme vom Männergebet. Es ist Freitag. 9:00 Uhr morgens. Ich hetze aus der Altstadt in die Uni, um einigermaßen pünktlich zu kommen. Die Kälte macht mir Kopfschmerzen. Helm und Kopfsteinpflaster machen es nicht besser. Tausend Gedanken schießen durch meinen Kopf: Eindrücke vom Gebet, Gott, das Leben, die Menschen, was muss ich heute alles machen? Ich knalle die schmale Gasse zum Fluss runter. Das Kopfsteinpflaster rüttelt an mir und meinem Fahrrad und bringt das Bild zum Flackern. Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Ich sehe jemanden mit Mantel in ein Geschäft in der Gasse huschen – davor ein fettes, blitzendes, schwarzes Auto. BMW X6 oder Audi Q5 oder VW Touareg oder Porsche Cayenne – keine Ahnung, etwas von dieser Sorte. Der Mensch mit Mantel war wohl dort ausgestiegen, um kurz in das Geschäft zu springen. Eine schäbig gekleidete Frau, vielleicht obdachlos, geht zu dem teuren Auto. Kopfsteinpflaster – alles wackelt. Was macht die da? Misstrauen. Was passiert hier? Die Frau zieht ihre Hände unter ihrem Schal-Decke-Mantel hervor und geht ganz nah an das Auto heran. Sie bewegt ihre geradeso sichtbaren, von Kälte, Frost und Dreck gezeichneten Hände über die blitzende Motorhaube bis sie schließlich kurz vor der Windschutzscheibe verharrt. Ich brettere vorbei, höre nur mein klapperndes Fahrrad und die Lüftung des dicken Autos, rolle rüttelnd und ratternd weiter.

Das verträumte Gedanken-Chaos ist auf ein Mal wie weg gepustet. Die Welt steht still. Es gibt nur noch diese eine Frage: was war hier gerade passiert? Ich muss es in Gedanken buchstabieren, weil es so bizarr ist. Die schäbig gekleidete Frau aus der Gasse war zu dem fetten, schwarzen Auto gegangen, um für diesen einen, kurzen Moment ihre Hände an der aufsteigenden Restwärme des Motors zu wärmen. Bevor ich überhaupt glauben kann, wovon ich gerade Zeuge geworden war, springt es mir an die Kehle und krallt sich fest. Es steckt mir einen Kloß in den Hals, es schnürt mir den Brustkorb zu, es wringt meinen Magen aus, es saugt die Energie aus mir raus; dieses kleine, schmierig-stinkende Monster, das ich schon so lange kenne: das Schamekel. Es tanzt und kreischt und keift in mir. Ich empfinde brennende Wut auf den Mensch mit Mantel im Laden, weil ihm das Auto gehört; herzzerreißendes Mitleid mit der Frau; auftürmende Machtlosigkeit, weil ich nur zuschauen kann. Das Schamekel sammelt das alles ein und formt daraus einen verzerrten Spiegel, den es mir unbarmherzig und höhnisch vor das Gesicht hält. Ich sehe mich, einer von den Reichen, einer aus dem Team Mensch mit Mantel und Auto. Ich schäme mich in Grund und Boden und würde gerne betroffen runterschauen, aber das Schamekel presst mein Gesicht an den Spiegel – ich kann mich nicht bewegen. Mit jeder Sekunde, die ich mich im Spiegel anschaue, steigt der Ekel vor mir selbst und dem ganzen Reichtum in dieser Welt in mir auf. Sollte ich nicht dankbar sein, dass ich zu den Reichen gehöre? Ich schäme mich, weil ich so undankbar bin. Ich schaue in den Spiegel und mir wird übel vor Ekel. Ich glaube, ich zittere. Das kleine Monster hatte es mal wieder geschafft!

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Das Schamekel steigt zu mir in den Whirlpool, ich grüße verkrampft und heiße es willkommen. Ich weiß, was jetzt passiert. Statt entspannt auszuatmen, bekomme ich kaum Luft. Statt warmen Wasser, das mich umspült, kriechen schaurig kalte Luftblasen an mir hoch, das herrliche Kaffeearoma schmeckt ranzig und bei dem Gedanken an ein fünf-gängiges Abendessen wird mir schlecht. Jetzt bin ich dankbar. Dankbar, dass die schäbig-gekleidete Frau mich jetzt nicht sehen kann und diesen ekelhaften Reichtum jenseits all ihrer Vorstellungen bemerkt. Sie hat mich gebrandmarkt, gebrandmarkt mit Erinnerung, obwohl sie mich wahrscheinlich gar nicht gesehen hat. Ich ziehe die Notbremse, stehe auf, gehe zur Dusche und wasche mir das vor Luxus stinkende Wasser vom Leib. Ich kann es einfach nicht genießen, es geht nicht. Das konnte ich noch nie so richtig.

Über die Zeit sind das Schamekel und ich Freunde geworden. Wir kennen uns einfach schon seit so vielen Jahren und teilen so viele gemeinsame Momente:

Papa, der mich mit dem Porsche irgendwo abholt und ich in die Augen meiner Freunde schaue, während ich einsteige. Sie blitzen mich an mit einer Mischung aus Bewunderung für etwas, das mir nicht zusteht und Neid auf etwas, das ich selbst gar nicht will.

Skiurlaube mit meiner Familie, die ich so liebe, aber das Schamekel habe ich immer dabei.

Ein Geldgeschenk für ein alternatives Fahrrad, das ich mir schon länger kaufen will, aber im letzten Moment einen Rückzieher mache, weil ich es eigentlich nicht brauche und mir stattdessen Bücher fürs Studium kaufe, die ich sowieso gekauft hätte.

Mama, die fragt, ob ich das feinste Lammfilet mit Papas bester Rotweinsauce zu Weihnachten essen möchte – mein Lieblingsessen. Jedes Mal wieder ein innerer Kampf zwischen Dankbarkeit, Vorfreude, Schuld und Scham – ich mag ja auch Nudeln mit Tomatensauce.

Nicht zuletzt eine Hochzeit, für die ich tausende Euro für Genuss, riesige Freude, geliebte Frau, Freunde, Familie und schönste Erinnerungen investiere. Statt einer hübschen Blume habe ich aber mein Schamekel in die Anzugtasche gesteckt. Diese Liste könnte ich lange fortführen.

Auf der einen Seite tue ich damit ganz vielen Menschen und Gott Unrecht mit meiner Undankbarkeit und mit der Unfähigkeit, Wohlstand als Segen anzunehmen und zu genießen. Das tut mir unendlich Leid. Ich kann nicht anders. Auf der anderen Seite erinnert mich das Schamekel immer wieder an alle, denen es nicht so gut geht wie mir. Es konfrontiert mich mit der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit in der Welt, damit sie niemals aufhören an mir zu nagen. Es bewahrt mich vor Gleichgültigkeit und hilft mir, Menschen in Armut und Leid mit liebevollen Augen anzuschauen. Es zeigt mir meine Machtlosigkeit und treibt mich in Gottes offene Arme, damit lerne, ihm zu vertrauen. Denn ihm stehen Wege offen, die ich weder sehen, noch gehen kann. Ich versuche nur einen verschwindend kleinen Beitrag dazu zu leisten: ich bete, ich spende. Ich glaube, Gott hat mir das Schamekel geschickt, damit ich ein Hauch der Vorstellung erhalte, wie er sich fühlt, wenn er allmächtig, allwissend und voller Liebe für die Welt die Ungerechtigkeit, den Schmerz und das Leid in der Welt erträgt. Damit kriegt er mich immer wieder. Wenn ich mich dann angeekelt von meinem Luxus in einem verzerrten Spiegel sehen muss und mich schäme, weiß ich sicher, dass er mich sieht, kennt und trotzdem liebt. Das ist eine Erfahrung, die mir zu einem unerklärlichen Geheimnis des Glaubens geworden ist. Und Stück für Stück lerne ich eine unendlich teure Tugend, wenn ich an Gottes Hand die Ungerechtigkeit der Welt betrachte: Demut

Ich danke dem SchamEkel, ein wahrer Demuts-Engel mit fragwürdigen Unterrichtsmethoden und ein treuer Begleiter.

„Ich bemühte mich, die Weisheit kennenzulernen und das Tun und Treiben auf dieser Welt zu verstehen. Doch ich musste einsehen: Was Gott tut und auf der Welt geschehen lässt, kann der Mensch nicht vollständig begreifen, selbst wenn er sich Tag und Nacht keinen Schlaf gönnt. So sehr er sich auch anstrengt, alles zu erforschen, er wird es nicht ergründen! Und wenn ein weiser Mensch behauptet, er könne das alles verstehen, dann irrt er sich!“

(Prediger 8,16-17 nach Hoffnung für Alle)

Lukas

Flüchtlinge, Frechheiten, Fantasie

Shit, habe ich das Handy mitgenommen? Ich greife hektisch an die Tasche meiner Arbeitshose. Zum Glück, ich hab‘s mit. Das wär’s ja noch gewesen. Bin eh schon spät dran. Sorry, ich hab mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Bernd. Bernd Rau, Klempner hier in Brothausen. Geschäft läuft okay. Hab ne kleine Firma mit drei Angestellten. Boris, Detlef und Želko. Wir sind die einzigen hier im Ort, Fachkräftemangel. Deswegen haben wir immer alle Hände voll zu tun. Reich werden kannste damit nicht, aber zum Leben reicht‘s. Bin gerade auf dem Weg zur Baustelle. Und es ist schon dreiviertel acht. Deswegen die Eile. Die Jungs sind wahrscheinlich schon fleißig dabei. Das sind echt gute Leute. Bin froh, dass ich die hab. Das ist heute ja nicht mehr selbstverständlich. Die meisten in meiner Branche nehmen nur noch die Rumänen, Ukrainer, Türken und was nicht alles. Da kannste froh sein, wenn du noch deutsch mit denen sprechen kannst. Aber ich kann mich nicht beklagen. Gut, der Boris und der Želko, die sind aus Bulgarien. Aber das sind gute Jungs, die sind auch schon einige Jahre da. Ich glaub, der Želko ist sogar hier geboren. Wie auch immer. 

Gerade wird hier im Ort ein Gebäude kernsaniert. Und wir sind gerade dabei die ganzen alten Rohre rauszureißen und neu zu verlegen. Die Frist ist knapp, bin gespannt ob wir da pünktlich fertig werden. Bin angekommen. Stell den Wagen ab, schnapp mir mein Zeugs und nix wie hoch in den dritten Stock. Ganz schön runtergekommen hier. Die Sanierung hatte die Bruchbude hier echt nötig. Auf der Treppe fällt mir noch ein, dass ich den Jungs noch ein bisschen Feuer machen muss. Im positiven Sinn. „Moin“, sag ich. „Moin, Chef“, sagt Detlef. „Wir haben schon mal die Kippe für den ganzen Schrott da unten aufgebaut. Kann losgehen hier!“. „Wunderbar“, sag ich. „Wir müssen heute mit der halben Etage hier fertig werden, schaffen wir das?“, frag ich energisch. Boris runzelt die Stirn und brummt: „Dann mal los!“ 

Wir ackern bis zur Frühstückspause. Schweißen den ganzen Schrott nach unten, aber die haben hier gute Kupferrohre verbaut. Die sind was wert und wir können die zum Glück behalten. Deswegen sammeln wir die hier drin. Draußen kann sich ja jeder bedienen. „Jungs, ich muss nochmal in die Firma fahren und das ein oder andere erledigen. Bin gleich zurück!“ Den ganzen Papierscheiß, Dokumentation, Rechnungen, Steuern, Telefonate und so weiter. Wenn das nicht wäre, wäre das echt einer der geilsten Jobs der Welt. Mit den Jungs auf der Baustelle. Zusammen was schaffen, das macht echt Spaß. Aber muss halt sein.

Zurück auf der Baustelle. „Und Männer, alles klar hier?“ „Geht voran“, sagt Želko. Aber seit ner Stunde wühlt da ne Frau in unserem Container rum. Ich glaub, die sucht was zum Verkaufen. Ich hab schon gerufen, sie soll weggehen, aber hat sie nicht gemacht.“ Ich sag: „Wie, die fühlt da rum. Zeig ma!“ Wir gehen zum Fenster und ich schau runter. Da wühlt echt ne Frau in der Kippe rum. Ich fasse es nicht! Das ist ja dreist! Und komisch, die muss ungefähr mein Alter sein, aber irgendwie türkisch oder Persien oder so. Warum ist die da? „Ich geh runter und klär das mal“, sag ich. Auf Weg nach unter spielen sich schon alle möglichen Gesprächsszenarien in meinem Kopf ab. Bin sehr gespannt, was das da gleich gibt. Ob die überhaupt deutsch versteht? „Entschuldigung?!“, rufe ich. „Was machen Sie denn da?“ Sie springt erschrocken aus unserer kleinen Mulde. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Die Sachen sehen alt und durchgetragen aus, aber nicht so pennerhaft, sondern nur alt. Die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ich hebe beschwichtigend eine Hand. „Keine Angst, ich will ja nur mal fragen, weil das da meine Mulde ist“, sag ich ruhig. Sie zieht die Schultern hoch. „Sorry, sorry, for mother-in-law“, erwidert sie in mit starkem Akzent. „A okay, verstehen Sie deutsch?“, frage ich. „Deutsch, bisschen“, entgegnet sie mit einem leicht gezwungenen lächeln. Die Situation wurde jetzt etwas entspannter. „Und was willst du mit dem Schrott, verkaufen? Brauchst du Geld? Sell for money?“, sagte ich und versuchte es mit unbeholfener Gestikulation zu unterstützen. Leider war mein Englisch eine Katastrophe. Sie nickte. „Yes, yes. Mein mother-in-law und ich, refugees, flüchten, from Syria. She said, maybe, ich kann sell scrap“, sagt sie nach Wörtern ringend. „Schrott verkaufen!“, helfe ich ihr auf die Sprünge. Sie nickt. „We live next to Recycling-center.“ „Wertstoffhof, aha, haben Sie eine Wohnung gefunden, found apartment?“ „Just a room, we get a little money, but need more, to buy bed and cooker.“ “O Mann, nicht mal Bett und Herd haben Sie. Haben Sie noch mehr Familie, Mann, Kinder?“, frag ich. Die haben doch eigentlich immer Familie dort. Ihr Blick wird traurig und sie schaut zu Boden. „No, no, my husband, my father-in-law, brother-in-law died in war. And I have no contact to my old family, because I became a Christian, they are Muslim. But my mother-in-law, she is from Germany, from here, Brothausen. She came to Syria 30 years ago.” Aus Brothausen, dachte ich, die muss ich doch kennen. Als ich Kind war, sind einige hier aus dem Dorf ausgewandert. Gab keine Arbeit und dann sind viele gegangen. „Aha, vielleicht kenn ich die ja, von früher!“, antworte ich ihr. „Und wissen Sie was, Sie können hier alles mitnehmen, was Sie brauchen können! Und sagen Sie einen lieben Gruß an die Schwiegermutter!“ „Thank You, danke!“, sagt sie mit leuchtenden Augen. 

Ich dreh mich um, geh wieder hoch und fühle mich irgendwie gut, dass ich helfen konnte. „Und Chef, haste Sie weggeschickt?“; fragt Boris. „Ne, die ist ganz arm dran, Flüchtling aus Syrien. Die ist wohl mit ihrer Schwiegermutter gekommen, die kommt wohl ursprünglich hierher. Familie ist im Krieg gestorben, und so weiter, aber habs nicht alles genau verstanden. Und sie ist irgendwie Christ aber ihre Familie nicht oder so. Egal, die haben da wohl nen Zimmer neben dem Wertstoffhof und ihre Schwiegermutter hat sie Schrott sammeln geschickt, dass sie sich Möbel kaufen können“, erklär ich die Szene in Kurzform. „Ja, macht die jetzt weiter?“, fragt Želko. „Jo, ich habs ihr erlaubt. Die hat ja sonst nix“, sag ich. „Das ist doch kaum zu fassen“, bemerkt Detlef etwas ausgebracht. „Die kommen von überall her, fressen unsere Steuergelder und jetzt nehmen sie schon unseren Schrott und unsere Wertstoffe und irgendwann klauen sie uns die Arbeitsplätze.“ „Detlef, mach ma halblang“, sag ich. „Das sind zwei arme Frauen, die ihre Familie im Krieg verloren haben.“ „Ja weißte, meine Mutter ist mit 39 an Krebs gestorben und mein Vater hat gesoffen wie ein Loch. Ich hab mich auch hochkämpfen müssen, dass ich jetzt da bin, wo ich bin und hab nix vom Staat bekommen.“ Wir diskutierten noch ein bisschen. Aber gut. Ich will die Stimmung in der Firma nicht zerstören, muss ja auch jeder seine politische Meinung finden.

Am nächsten Tag, noch morgens, wir waren gerade gut am Schaffen, ruft Boris: „Chef, die ist wieder da.“ Und tatsächlich, da unter war sie wieder und suchte nach Verwertbarem. Die Sache war mir gestern Abend nicht aus dem Kopf gegangen. Ich hatte mich gefragt, ob man nicht mehr tun könnte oder müsste, ohne jetzt irgendwie über die Stränge zu schlagen. Ich hatte da schon eine Idee, aber wer weiß, wie die Jungs reagierten. „Wisst ihr was?“, rief ich. „Die teuren Kupferrohre hier, schmeißt die einfach runter.“ „Jetzt ehrlich?“, fragt Zelko. „Jap“, sag ich. „Chef, du meinst es wohl ein bisschen zu gut“, sagt Detlef. „Ich werd aber nicht kürzer treten, nur wegen irgendeiner Flüchtlingsfrau.“ „Mensch Detlef, hab ich je schlecht gezahlt? Das geht natürlich auf meine Kappe“, sag ich etwas genervt und enttäuscht über das Misstrauen. Aber man kann es eben nicht allen recht machen. Während des Tages, schaue ich immer mal wieder raus, ob sie die Kupferrohre auch nimmt. Tut sie. Davon kriegt sie auf jeden Fall erstmal alles, was sie braucht. Am späten Nachmittag fahre ich dann nochmal ins Büro für ein paar Anrufe und Papier. 

Als ich gegen Abend rauskomme, steht die Frau vor mir. „Hallo“, sag ich. „Thank You, I know, you give the tubes”, erwidert sie strahlend. “Man tut, was man kann”, sag ich möglichst bescheiden und geschmeichelt. „May I ask you something rude?“ Was war nochmal `rude´? Meine Vokabelkenntnis ist einfach peinlich. Irgendwie bin ich gespannt, was sie jetzt sagt. „Ja, was denn?“, frag ich. „Please, could you offer me a job? I need it for application for residence in Germany, and for money, so I can take care for my mother-in-law.” Ich gucke etwas überrascht oder entsetzt? Weiß nicht, ich kann mich ja nicht selbst sehen. Ich runzle die Stirn und atme seufzend aus. Keine Ahnung, ob ich mir das leisten kann. „Was können sie denn?“, sondiere ich. Was wird das hier eigentlich, ein Bewerbungsgespräch auf dem Bürgersteig? „In Syria, I work in administration in a company.“ Mh, klingt mir nicht nach handwerklich begabt. Aber wenn sie nur etwas besser deutsch sprechen könnte, könnte ich sie als Art Sekretärin gebrauchen. Dann wär ich auch diesen ganzen Telefon- und Papierscheiß los. „Wissen Sie was?“, sag ich. „Ich sage ihnen morgen Bescheid, was ich machen kann. Ist das okay?“ „O, thank you, vielen Dank“, antwortet Sie etwas ungläubig, aber hoffnungsvoll. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „Ruth“, sagt sie. „Bernd“, sag ich. 

Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen. Ich hatte mir den nächsten Tag frei genommen, um mich nach allen möglichen Dingen zu erkundigen. Rechtliches, Finanzielles und nach Deutschkursen. Dann habe ich am nächsten Tag die frohe Kunde überbracht. Der Deal, den ich mir überlegt hatte, war folgender: Ich stellte Ruth auf 450 Euro Basis an, aber sie besuchte zwei Monate lediglich den Deutschkurs, den ich über die Firma finanzieren konnte. Ab dann konnte ich sie in die Firma einarbeiten, aber nur halbtags, während sie weiterhin deutsch lernte. Das Telefonieren musste ich erstmal noch übernehmen. Aber sie war erstaunlich geschickt mit allen möglichen PC-Geschichten und Verwaltungssachen, die für mich immer nur undurchsichtig und nervig waren. Seit vier Wochen hat sie einen richtigen Arbeitsvertrag. Die Jungs mussten das erstmal schlucken, besonders Detlef. Želko und Boris sind da glaub ich verständnisvoller, weil deren Eltern selbst mit nichts hierher kamen. Aber jetzt, wo sie sehen, dass ich viel mehr Zeit habe, um vor Ort mit anzupacken, haben sich alle Zweifel gelegt. Für die Firma war die ganze Sache schon ein finanzielles Wagnis. Mein Gewinn war ziemlich dünn die letzten Monate, aber so ist das als Selbstständiger. Es geht eben mal hoch, mal runter. Seit einigen Wochen geht’s allerdings hoch. Seitdem Ruth voll mitarbeitet, schaffen wir wesentlich mehr Aufträge. Und die jüngsten Neuigkeiten? Aber behaltet sie für euch! Heute habe ich Ruth gefragt, ob sie mit mir ausgeht. Sie hat Ja gesagt.

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Wie du mir, so ich dir?

Ein Wind bläst mir um die Nase. Im Takt strampeln meine Beine hoch und runter. Nur ein gleichmäßiges Reiben der Kette ist zu hören. Nach fast acht Stunden auf dem Fahrrad fangen meine Waden an zu ziehen. Von meinem Allerwertesten ganz zu schweigen. Aber noch höchstens eine Stunde, dann haben wir das Tagesziel erreicht. Das ganz große Ziel Amsterdam ist noch in weiter Ferne. Über 500 Kilometer um genau zu sein. Einfach so mit dem Fahrrad fahren. Einfach so irgendwo übernachten. Kein Druck. Nichts was mich ablenkt. Ein Gefühl der Freiheit.

Pfffft… Von einem Moment auf den anderen ist das Gefühl verflogen. Stillstand. Gepäck abladen. Rad abmontieren. Schlauch raus. Flicken drauf. Schlauch rein. Rad drauf. Aufpumpen. Gepäck zurück. Abfahrt. Nach einer halben Stunde sind wir wieder auf den Rädern. Pfffft… Doch das nur für maximal zehn Minuten. Langsam wird es dunkel. Die Zeit rennt uns davon. Aber was solls? Gepäck abladen. Rad abmontieren. Schlauch raus. Flicken drauf. Schlauch rein. Rad drauf. Aufpumpen. Gepäck zurück. Pffft… Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Das war der letzte Flicken. Wir sitzen irgendwo in einem Wohngebiet. Der nächste Laden ist eine Stunde entfernt.

So sitzen wir nun da. Drei Jungs, total verloren um ein Fahrrad sitzend. Wir diskutieren. Es kann doch nicht sein, dass wir keine Lösung finden!? Das bekommen wir schon irgendwie hin. Wir wissen uns doch zu helfen! Okay… zum Baumarkt kommen wir nicht mehr. In einer Stunde ist er geschlossen. Und wer weiß, ob sie Rennradschläuche haben? Wo bekommt man die sonst her? Amazon! Natürlich! Wie lange brauchen die, für die Lieferung? Gibt es da nicht den Prime Morningexpress? Ja stimmt! Aber wohin sollen die liefern? Sollen wir einfach irgendeine Adresse angeben und den Postboten abfangen? Ne… das klappt niemals! Paketstation! Ja genau! Gibt es irgendwo eine? Ja! Sogar in diesem Dorf! Super! Dann machen wir das. Aber auch der letzte Rettungsanker, Amazon, hilft nichts. Wir sind ein paar Minuten über dem Zeitlimit für Expresslieferungen. “Kann ich euch irgendwie helfen?” Huch? Wer war das? Vor uns steht ein Mann mittleren Alters. Anscheinend ein Anwohner. Ach was. Ne… Das bekommen wir schon alleine hin. Wir können ihm doch jetzt nicht zur Last fallen. Aber Stück für Stück stehen immer mehr Anwohner bei uns und wollen helfen. Eine Frau fährt mit dem Auto zu einem Freund, der scheinbar Schläuche herumliegen hat. Ein Mann gibt uns neues Flickzeug. Eine Frau bietet uns an, bei ihr daheim aufs Klo zu gehen. Da es regnet, fragt uns eine andere, ob wir uns in der Garage unterstellen wollen. Später kommt sogar eine Omi vorbei und gibt jedem von uns eine Tafel Schokolade und etwas zu Trinken. Total überfordert von der unglaublichen Hilfsbereitschaft stehen wir da und versuchen unser möglichstes, das Fahrrad irgendwie zu reparieren. Aber es hilft nichts, wir werden den Campingplatz wohl nicht erreichen.

Einige Tage später stehen wir vor einer Kneipe und schließen unsere Fahrräder auf. Da kommt ein Mann auf uns zu. Seine Kleider sind zerlöchert und er riecht so, als hätte er schon länger keine Dusche mehr gesehen. In gebrochenem Englisch erzählt er uns eine herzerwärmende Geschichte. Seine Kinder wohnen in Berlin und er möchte dort hin, aber er hat kein Geld für ein Ticket.
Ich schalte automatisch in einen anderen Modus. Der Modus, den ich mir über die Jahre angeeignet habe, nachdem ich von vielen Bettlern um Geld gebeten wurde. Ich tue beschäftigt und hoffe, dass er gleich wieder geht und ich mit meinem Leben weiter machen kann. Aber es hilft nichts. Also Stufe 2: “Sorry! I don’t have any cash.” Irgendwann merkt er, dass es keinen Sinn hat und geht weiter. Der Freund, mit dem ich da stand, schaut mich betroffen an: “Wir hätten ihm helfen sollen”, sagt er.
Ja… Aber wenn wir ihm Geld geben, dann wissen wir ja auch nicht, was er damit anfängt (Eine richtig gute Ausrede, Bettlern kein Geld zu geben)
“Wir hätten ihm einfach das Ticket kaufen sollen. Das kostet fünfzehn Euro.”
Boom! Der hat gesessen. Meine einzige logische Ausrede ist dahin. Stimmt das hätte wir tun können. Vielleicht hätten wir ihm wirklich helfen können. Wie kann man nur so kalt sein? So unmenschlich? So abweisend? Ein Mensch hat mich um Hilfe gebeten und ich habe ihn einfach ignoriert.
Stand ich nicht vor einer Woche genauso hilflos da? Ich war damals überwältigt von dieser riesigen Hilfsbereitschaft. Und jetzt bin ich nicht einmal bereit ein paar Euro für jemanden auszugeben, der offensichtlich Hilfe braucht. Von der Tatsache, dass ich nicht weiß, ob er wirklich nur ein Ticket braucht mal ganz abgesehen.

Ein bisschen erinnert mich das an eine Geschichte aus der Bibel. Dort schuldet ein Mann dem König eine unfassbar hohe Summe Geld. Doch der König erlässt sie ihm einfach. Kurz darauf geht der Mann zu einem seiner Schuldner, der ihm eine vergleichsweise minimale Geldsumme schuldet und fordert sein Geld zurück. Total bescheuert, oder? Null Dankbarkeit. Diese Geschichte steht in einem etwas anderem Kontext (lest das gerne mal nach: Matthäus 18:21-35). Trotzdem kann ich dort ein gewisses Prinzip wiederfinden. Ich finde mich in genau diesem Mann wieder. Da haben Leute für mich ihren Abend geopfert, mir viele Dinge geschenkt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, aber wenn ich die Möglichkeit habe jemand anderem zu helfen, tue ich es nicht.

Mach dir mal bewusst, was du heute Gutes erlebt hast. Kannst du etwas davon zurückgeben?


Text und Foto: Philipp Jenny

Das Schamekel

Ich sitze hier. Das herrlich warme, blubbernde Wasser umspült samtweich meinen ganzen Körper und schaukelt mich sanft hin und her. Jedes Ausatmen wird zur ultimativen Befreiung, weil der leichte Wasserdruck auf meiner Lunge die ganze Arbeit übernimmt. Nach dem Atemweg-befreienden Dampfbad strömt die Luft wie von selbst durch mich hindurch. Der Nachgeschmack vom Cappuccino, den ich mir eben gegönnt habe, beflügelt meine Geschmacksnerven. Ich könnte mir noch einen bestellen, hier direkt in den Whirlpool – das machen die sogar, außerdem ist es sowieso All-inclusive. Aber ich trinke, glaub ich, lieber einen Espresso zum Nachtisch nach dem fünf-gängigen Abendessen und ein Glas auserlesenen Rotwein.

Ein knappes Jahr zuvor…

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