Als das Brausen begann…

50! Heute ist es soweit. Jeden Tag haben wir gezählt, wie schon all die Jahre zuvor. 50 Tage sind vergangen seit dem Passah-Fest, an dem wir uns erinnern, wie Gott uns damals aus Ägypten und der Sklaverei befreite. Doch dieses Jahr wurde das Passah von allerlei seltsamen Begebenheiten überschattet. Tumulte und Aufruhr gab es. Ein Schwindler, der sich als unser Messias und König ausgab, war hier nach Jerusalem gekommen und riss eine riesige Menge von Menschen in seinen Sog. Er war mir als Rabbi bekannt. Er hatte viele kluge Dinge gesagt in den letzten Jahren und konnte sich mit den Gebildetsten messen. Letztendlich hatte er sich überschätzt und war zu weit gegangen. Noch vor dem Sabbat war er als Gotteslästerer hingerichtet worden. Doch dabei blieb es nicht. Rund um das Passah war viel Sonderbares geschehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mitten am Tag schon mal so dunkel war. Gruselig war das. Aber noch mehr war geschehen. Darüber sollte ich eigentlich nicht sprechen. Es wird sehr diskret damit umgegangen. Ich arbeite im Tempel und bekomme allerlei mit. An eben diesem Tag, als es dunkel wurde und der Gotteslästerer hingerichtet wurde, riss der dicke Vorhang in unserem Heiligtum. Noch nie war das passiert, viel zu dick ist der und außerdem gut bewacht. Entweder muss hier ein riesen Komplott geschmiedet worden sein, oder Gott selbst hat das getan. 

Seit 50 Tagen grüble ich darüber nach. Ach ja, 50 Tage. Da war ich stehen geblieben. 50 Tage nach dem Passah feiern wir das Wochenfest und erinnern uns daran, wie Gott uns seine Weisungen am Berg Sinai gab und danken für den ersten Weizen, den wir ernten. Die ganze Nacht hindurch habe ich in der Synagoge die Thora, unsere heilige Schrift, studiert. So machen wir es jedes Jahr und nennen es „Nachtwache“. Aber die Begebenheiten vom letzten Passah gehen mir immer noch nach. Dieser Rabbi, Jesus, hatte mich eigentlich auch sehr überzeugt. Beinahe hätte ich selbst geglaubt, er sei der Messias. Er hatte so viele Wunder getan, die sonst niemand tun konnte. Er hätte es sein können. Einige seiner Anhänger sind immer noch in der Stadt. Es geht sogar das Gerücht um, er sei auferstanden. Wahrscheinlich verbreiten seine Anhänger das, um zu verarbeiten, dass sein Grab geplündert und seine Leiche gestohlen wurde. So sagen es zumindest die Anführer unseres Volkes. Viel zu viel Sonderbares und Merkwürdiges umgibt diese Ereignisse. Ich kann nicht leugnen, dass auch ich etwas zweifle. Irgendetwas Überirdisches scheint im Gang gewesen zu sein. Fragt sich nur, ob Gutes oder Böses.

Während ich hier so stehe und grüble, schrecke ich auf. Was ist das? Irgendein Geräusch, so ein Brausen und Rütteln, als wäre es plötzlich sehr windig. Oder wieder ein Aufruhr? Ich eile nach draußen, um zu sehen, was los ist. Alle Nachbarn sind auch schon draußen. Es herrscht viel Aufregung und Gewirre. Das Rauschen scheint vom Ende der Straße zu kommen. Ich lasse mich von der Menge ziehen und mitreißen. Alle wollen sehen, was da los ist. Auch aus den anderen Gassen strömen Menschen dazu. Während wir dem Brausen entgegen gehen, als würde es uns anziehen, wird es langsam leiser. Ich bin in einer der vorderen Reihen und höre es noch lange genug, um zu bemerken, dass es aus dem Haus da vorne zu kommen scheint. Als wir das Haus erreichen, ist es abgeklungen und ich höre nur noch das aufgeregte Getuschel um mich herum. Was war das? Da! Da kommen Leute aus dem Haus! Die muss es voll getroffen haben, aber Moment. Die sind nicht erschrocken oder verängstigt. Die sind euphorisch! Was ist hier denn los? Einer von ihnen hebt die Hände und will wohl etwas sagen. Vielleicht bringt das jetzt etwas Licht ins Dunkel. 

Er beginnt zu reden, aber warte mal… das ist nicht Aramäisch. Das ist die Sprache meiner Heimat! Ich komme eigentlich aus Libyen und bin mit meiner Familie hierher ausgewandert. Aber der Mann redet in meiner Muttersprache und offensichtlich spricht er über Gott. Er sieht überhaupt nicht so aus, als käme er aus Libyen. Außerdem würde ich ihn kennen. Ich kenne eigentlich alle Libyer hier, denn wir haben unsere eigene Synagoge. Ich schaue mich um. Alle scheinen so perplex zu sein wie ich, aber alle hören zu. Und das kann gar nicht sein, eigentlich sollte ihn kaum jemand verstehen können.

„Hey, warum redest du ägyptisch?“, ruft jemand ein paar Meter neben mir. „Du bist doch Galiläer, ich kenn dich doch!“ Was? Ägyptisch? „Nein, er redet arabisch, ich erkenne noch meine Muttersprache!“, grätscht eine Frau dazwischen. „Quatsch, das ist doch Griechisch, seid ihr blöd?“, ruft jemand von hinten. Offensichtlich scheinen hier alle etwas anderes zu hören. Und wohl alle in ihrer Muttersprache. Das ist verrückt! Alle fangen an wild durch einander zu reden. „Der da vorne ist doch besoffen. Das ist doch Unsinn hier!“, ruft jemand und viele lachen. Da hab ich meine Zweifel, er spricht ja deutlich, auch, wenn seine Euphorie etwas erzeugt scheint.

„Aber, aber meine lieben Brüder und Schwestern…“, beginnt der Mann vorne, der die vielen Sprachen spricht und hebt beschwichtigend die Hände. Was er jetzt sagt, trifft mich mitten ins Herz, wie ein Schlag! Was hier gerade passiert ist, scheint die Erfüllung einer Prophezeiung des Propheten Joels zu sein. Naklar! Die Ausgießung des Geistes am Ende der Zeiten! Deshalb dieses Brausen! Warum haben wir das nicht eher verstanden. Aber dann… dann müsste der Messias ja schon gekommen sein. Was sagt er dazu? O nein, jetzt redet er von diesem gekreuzigten Rabbi Jesus. Offensichtlich ist er einer seiner verbliebenen Anhänger. Aber was er sagt… was er sagt, ergibt Sinn! Vergangene Nacht, als ich in der Synagoge war, habe ich genau diesen Psalm gelesen, den er zitiert, und mir den Kopf darüber zerbrochen. Aber wie er es jetzt erklärt – das ergibt wirklich Sinn! Es ist, als fielen mir Schuppen von den Augen, als würde ich endlich klar sehen. Dieser Jesus war wirklich der Messias! O, Gott! Und wir haben ihn ermordet! Meine Gefühle überwältigen mich. Ich habe mich noch nie so leicht und klar, aber gleichzeitig so schwer und betrübt gefühlt! Ich bin voller Trauer und Schmerz und voller Freude zur selben Zeit! Niemals hatte ich so ein berauschendes, aber irgendwie auch unangenehmes Bewusstsein von Wahrheit. Als ich mich umschaue, merke ich, dass ich damit nicht allein bin. So ziemlich allen scheint gerade ein warmes Licht aufgegangen zu sein und gleichzeitig sind so viele alte Haltungen, Meinungen und Ansichten schmerzlich zerbrochen.

Der Mann vorne hat seine Predigt beendet und viele Momente herrscht eine seltsame, aber irgendwie heilige Stille. Wie reagiert man auf solch ein Ereignis, auf das Umkrempeln unserer aller Leben? Wie macht man weiter? Ich nehme mir ein Herz und trete einen Schritt vor. „Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?“, frage ich den Mann vorne und die ganze Betroffenheit und Scham, aber irgendwie auch diese Befreiung liegt in meiner Frage. „Ändert euren Sinn, und jeder von euch soll sich taufen lassen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen“, fordert er uns auf.

Ja, das will ich. Ich habe eher das Gefühl, dass mein Sinn schon dabei ist sich zu ändern. Mich taufen lassen auf den Namen des Messias, den wir töteten, aber der lebt und uns trotzdem vergibt. Das bekomme ich noch nicht in meinen Kopf, aber irgendwie hat es mich auf andere Weise erfüllt. Es scheint ein Geheimnis zu sein. Und jetzt weiß ich, worüber ich in Zukunft nachgrübeln will. Über dieses Geheimnis, damit sich mein Sinn immer weiter ändert durch das, was ich heute empfangen habe.

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Alles für die Familie

Neues Jahr, neues Konzept. So läuft das bei Alltagspropheten. Während sich sonst alles verändert, ist Veränderung für uns die einzige Konstante. Eines unserer neuen Formate, die ab jetzt monatlich erscheinen, nennt sich „HIS-STORY-MAKER“. Darin wollen wir aus Sicht derjenigen berichten, mit denen Gott Geschichte geschrieben hat. Einige Bibelgeschichten scheinen nämlich nicht so richtig ins 21. Jahrhundert zu passen. Wir wollen diese Geschichten in verständlicher Sprache nacherzählen &/oder in zeitrelevante Kontexte einbinden.

„Lauft! Laaauuuuft! Und dreht euch nicht um!“, schrie mein Vater von hinten. Ich rannte so schnell ich konnte. Drei Meter vor mir meine Schwester. Es war ohrenbetäubend laut. Es donnerte, aber nicht wie Gewitter, sondern viel, viel mächtiger. Von hinten blies heißer Wind. So stark, dass es schwierig war geradeaus zu laufen. Überall war Staub. Ich konnte höchstens fünfMeter sehen. Und die Erde bebte. Die Welt ging unter. „Lauft! Und dreht euch nicht um!“, schrie mein Vater wieder.

Wieder und wieder spielt sich die Szene in meinem Kopf ab. Ich sitze auf einem Stein, mein Gesicht in den Händen vergraben. Ich bekomme nur schwierig Luft. Meine Lunge ist voll von dem ganzen Staub und ausgetrocknet von dem irre heißen Wind. Mittlerweile ist es still. Totenstill. Man hört gar nichts mehr. Außer dem eigenen Atem. Wir haben es geschafft. Zumindest die meisten von uns. Meine Mutter ist verschwunden. Die letzte Stunde haben wir uns die Seele aus dem Leib geschrien und nach ihr gesucht. Vergeblich. Ich glaube nicht, dass sie es geschafft hat, aber heute werden wir nicht mehr zurückgehen können. Wir sind hier in die Berge gelaufen. Haben gerade zwei Zelte aufgebaut. Ich, meine Schwester und unser Vater. Ich musste mich gerade einmal setzen bevor wir anfangen Essen zu machen. „Komm, trink was und dann geht’s weiter!“, ruft meine Schwester mir zu. Ich raffe mich auf. Trinke einen Schluck. Wir haben so hektisch gepackt, dass keine Zeit blieb zum Brunnen zu laufen, um Wasser zu holen. Das einzige, was wir hier haben, sind unsere Weinschläuche. In dieser Situation ist mir das auch ganz lieb so.

Wir machen Feuer. Während ich etwas trockenes Holz und Gestrüpp zusammen sammle, gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wie geht es jetzt weiter? Wir sind die einzigen Überlebenden. Kein anderer unserer Verwandten, unserer Freunde und Nachbarn hat es geschafft. Keiner. Wir sind die einzigen. Sie wurden auch nicht gewarnt. Wir wohl gerade noch rechtzeitig. Wir sind die einzigen Überlebenden. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Ich schaue meine Schwester an. Ihr Blick ist leer. Meiner wahrscheinlich auch. „Wie geht es weiter?“, frage ich sie. Sie zuckt die Achseln. „Mit Essen“, erwidert sie sarkastisch. „Ne, mal ehrlich, sag ich. Was wird aus unserer Familie?“, frag ich. „Unsere Familie ist gestorben“, sagt meine Schwester, „es geht nicht weiter.“ Das darf nicht sein. Das kann nicht sein. Das will ich nicht wahrhaben. Meine Schwester scheint meine Gedanken zu hören und zischt: „Verstehst du nicht, wir sind die einzigen hier. Du, Vater und ich. Wir sind nicht verheiratet. Mutter ist weg. Das war’s.“ Ich weiß das, aber ich will es nicht hören. Trotzdem klingt in mir nach, was sie gerade gesagt hat und ein Gedanke reift in mir heran. Wie ein Geschwür. Ein unaussprechlicher Gedanke. Ein böser, furchtbarer, schändlicher Gedanke. Ich versuche ihn zu unterdrücken. Vergeblich. Die Idee ist da. Gibt es denn gar keinen anderen Weg? Ich denke krampfhaft nach. Aber so sehr ich es mir auch wünschen würde, es gibt keinen. „Nein, es muss nicht vorbei sein“, sage ich entschlossen und mit zusammengebissenen Zähnen. „Und du weißt, was ich meine“, flüstere ich. Meiner Schwester fällt der Löffel aus der Hand. „Spinnst du?“, knirscht sie. „Nein, es geht nicht anders. Es ist der einzige Weg und es ist unsere Verantwortung, vielleicht unsere Pflicht. Das weißt du auch“, sage ich leise. Unerträglich lange bleibt es still zwischen uns. „Und wie willst du das anstellen?“, flüstert sie mir zu. „Wir haben gerade nur Wein zu trinken, wir wollen alle vergessen oder es wenigstens etwas leichter nehmen, und wir alle haben einen irren Durst nach der Hitze, und dem Staub und der Flucht. Ich werde ihn eindringlich erinnern, dass er viel trinken muss nach einem solchen Tag. Er ist eh etwas durch den Wind. Und dann, heute Abend, naja, gehe ich zu ihm ins Zelt. Ich bin die Ältere von uns, ich werde es zuerst tun“, erkläre ich ihr schweren Herzens mit viel Selbstekel und fühle mich abscheulich. Ich glaube, ich kann heute nichts mehr essen. „Na gut, okay. Wenn du es auch machst, zieh ich mit. Es ist unsere Verantwortung. Nur wir haben es in der Hand, dass es mit unserer Familie weitergeht“, sagt sie. Jetzt redet keiner mehr. Der fürchterliche Plan steht. Die Entscheidung ist gefallen. Es ist unsere Pflicht.

In der alt-orientalischen Kultur ist die Bedeutung und der Fortbestand der Familie kaum zu unterschätzen. Frauen wurden vor allem nach dem Gebären insbesondere männlicher Nachkommen definiert und definierten sich selbst darüber. Die Geschichte reflektiert die Begebenheit, wie nur Lot und seine zwei Töchter den Untergang Sodoms und Gomorrhas überlebten und die Töchter den Fortbestand ihrer Sippe sichern, indem sie Kinder mit ihrem eigenen Vater zeugen (vgl. Genesis 19). Diese Entscheidung ist für uns im Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht einfach nachzuvollziehen, da Kinderlosigkeit in der Regel nicht als Schande aufgefasst wird und keine Identitätskrise nach sich ziehen muss – zum Glück. Diese Geschichte soll dazu beitragen, Verständnis für Frauen in stark patriarchalischen Kulturen zu schaffen, deren eigene Daseinsberechtigung sich maßgeblich durch das gebären von Nachkommen zum Fortbestand der Familie definiert – auch heute noch.

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Flüchtlinge, Frechheiten, Fantasie

Shit, habe ich das Handy mitgenommen? Ich greife hektisch an die Tasche meiner Arbeitshose. Zum Glück, ich hab‘s mit. Das wär’s ja noch gewesen. Bin eh schon spät dran. Sorry, ich hab mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Bernd. Bernd Rau, Klempner hier in Brothausen. Geschäft läuft okay. Hab ne kleine Firma mit drei Angestellten. Boris, Detlef und Želko. Wir sind die einzigen hier im Ort, Fachkräftemangel. Deswegen haben wir immer alle Hände voll zu tun. Reich werden kannste damit nicht, aber zum Leben reicht‘s. Bin gerade auf dem Weg zur Baustelle. Und es ist schon dreiviertel acht. Deswegen die Eile. Die Jungs sind wahrscheinlich schon fleißig dabei. Das sind echt gute Leute. Bin froh, dass ich die hab. Das ist heute ja nicht mehr selbstverständlich. Die meisten in meiner Branche nehmen nur noch die Rumänen, Ukrainer, Türken und was nicht alles. Da kannste froh sein, wenn du noch deutsch mit denen sprechen kannst. Aber ich kann mich nicht beklagen. Gut, der Boris und der Želko, die sind aus Bulgarien. Aber das sind gute Jungs, die sind auch schon einige Jahre da. Ich glaub, der Želko ist sogar hier geboren. Wie auch immer. 

Gerade wird hier im Ort ein Gebäude kernsaniert. Und wir sind gerade dabei die ganzen alten Rohre rauszureißen und neu zu verlegen. Die Frist ist knapp, bin gespannt ob wir da pünktlich fertig werden. Bin angekommen. Stell den Wagen ab, schnapp mir mein Zeugs und nix wie hoch in den dritten Stock. Ganz schön runtergekommen hier. Die Sanierung hatte die Bruchbude hier echt nötig. Auf der Treppe fällt mir noch ein, dass ich den Jungs noch ein bisschen Feuer machen muss. Im positiven Sinn. „Moin“, sag ich. „Moin, Chef“, sagt Detlef. „Wir haben schon mal die Kippe für den ganzen Schrott da unten aufgebaut. Kann losgehen hier!“. „Wunderbar“, sag ich. „Wir müssen heute mit der halben Etage hier fertig werden, schaffen wir das?“, frag ich energisch. Boris runzelt die Stirn und brummt: „Dann mal los!“ 

Wir ackern bis zur Frühstückspause. Schweißen den ganzen Schrott nach unten, aber die haben hier gute Kupferrohre verbaut. Die sind was wert und wir können die zum Glück behalten. Deswegen sammeln wir die hier drin. Draußen kann sich ja jeder bedienen. „Jungs, ich muss nochmal in die Firma fahren und das ein oder andere erledigen. Bin gleich zurück!“ Den ganzen Papierscheiß, Dokumentation, Rechnungen, Steuern, Telefonate und so weiter. Wenn das nicht wäre, wäre das echt einer der geilsten Jobs der Welt. Mit den Jungs auf der Baustelle. Zusammen was schaffen, das macht echt Spaß. Aber muss halt sein.

Zurück auf der Baustelle. „Und Männer, alles klar hier?“ „Geht voran“, sagt Želko. Aber seit ner Stunde wühlt da ne Frau in unserem Container rum. Ich glaub, die sucht was zum Verkaufen. Ich hab schon gerufen, sie soll weggehen, aber hat sie nicht gemacht.“ Ich sag: „Wie, die fühlt da rum. Zeig ma!“ Wir gehen zum Fenster und ich schau runter. Da wühlt echt ne Frau in der Kippe rum. Ich fasse es nicht! Das ist ja dreist! Und komisch, die muss ungefähr mein Alter sein, aber irgendwie türkisch oder Persien oder so. Warum ist die da? „Ich geh runter und klär das mal“, sag ich. Auf Weg nach unter spielen sich schon alle möglichen Gesprächsszenarien in meinem Kopf ab. Bin sehr gespannt, was das da gleich gibt. Ob die überhaupt deutsch versteht? „Entschuldigung?!“, rufe ich. „Was machen Sie denn da?“ Sie springt erschrocken aus unserer kleinen Mulde. Sie sieht ziemlich mitgenommen aus. Die Sachen sehen alt und durchgetragen aus, aber nicht so pennerhaft, sondern nur alt. Die Angst steht ihr ins Gesicht geschrieben. Ich hebe beschwichtigend eine Hand. „Keine Angst, ich will ja nur mal fragen, weil das da meine Mulde ist“, sag ich ruhig. Sie zieht die Schultern hoch. „Sorry, sorry, for mother-in-law“, erwidert sie in mit starkem Akzent. „A okay, verstehen Sie deutsch?“, frage ich. „Deutsch, bisschen“, entgegnet sie mit einem leicht gezwungenen lächeln. Die Situation wurde jetzt etwas entspannter. „Und was willst du mit dem Schrott, verkaufen? Brauchst du Geld? Sell for money?“, sagte ich und versuchte es mit unbeholfener Gestikulation zu unterstützen. Leider war mein Englisch eine Katastrophe. Sie nickte. „Yes, yes. Mein mother-in-law und ich, refugees, flüchten, from Syria. She said, maybe, ich kann sell scrap“, sagt sie nach Wörtern ringend. „Schrott verkaufen!“, helfe ich ihr auf die Sprünge. Sie nickt. „We live next to Recycling-center.“ „Wertstoffhof, aha, haben Sie eine Wohnung gefunden, found apartment?“ „Just a room, we get a little money, but need more, to buy bed and cooker.“ “O Mann, nicht mal Bett und Herd haben Sie. Haben Sie noch mehr Familie, Mann, Kinder?“, frag ich. Die haben doch eigentlich immer Familie dort. Ihr Blick wird traurig und sie schaut zu Boden. „No, no, my husband, my father-in-law, brother-in-law died in war. And I have no contact to my old family, because I became a Christian, they are Muslim. But my mother-in-law, she is from Germany, from here, Brothausen. She came to Syria 30 years ago.” Aus Brothausen, dachte ich, die muss ich doch kennen. Als ich Kind war, sind einige hier aus dem Dorf ausgewandert. Gab keine Arbeit und dann sind viele gegangen. „Aha, vielleicht kenn ich die ja, von früher!“, antworte ich ihr. „Und wissen Sie was, Sie können hier alles mitnehmen, was Sie brauchen können! Und sagen Sie einen lieben Gruß an die Schwiegermutter!“ „Thank You, danke!“, sagt sie mit leuchtenden Augen. 

Ich dreh mich um, geh wieder hoch und fühle mich irgendwie gut, dass ich helfen konnte. „Und Chef, haste Sie weggeschickt?“; fragt Boris. „Ne, die ist ganz arm dran, Flüchtling aus Syrien. Die ist wohl mit ihrer Schwiegermutter gekommen, die kommt wohl ursprünglich hierher. Familie ist im Krieg gestorben, und so weiter, aber habs nicht alles genau verstanden. Und sie ist irgendwie Christ aber ihre Familie nicht oder so. Egal, die haben da wohl nen Zimmer neben dem Wertstoffhof und ihre Schwiegermutter hat sie Schrott sammeln geschickt, dass sie sich Möbel kaufen können“, erklär ich die Szene in Kurzform. „Ja, macht die jetzt weiter?“, fragt Želko. „Jo, ich habs ihr erlaubt. Die hat ja sonst nix“, sag ich. „Das ist doch kaum zu fassen“, bemerkt Detlef etwas ausgebracht. „Die kommen von überall her, fressen unsere Steuergelder und jetzt nehmen sie schon unseren Schrott und unsere Wertstoffe und irgendwann klauen sie uns die Arbeitsplätze.“ „Detlef, mach ma halblang“, sag ich. „Das sind zwei arme Frauen, die ihre Familie im Krieg verloren haben.“ „Ja weißte, meine Mutter ist mit 39 an Krebs gestorben und mein Vater hat gesoffen wie ein Loch. Ich hab mich auch hochkämpfen müssen, dass ich jetzt da bin, wo ich bin und hab nix vom Staat bekommen.“ Wir diskutierten noch ein bisschen. Aber gut. Ich will die Stimmung in der Firma nicht zerstören, muss ja auch jeder seine politische Meinung finden.

Am nächsten Tag, noch morgens, wir waren gerade gut am Schaffen, ruft Boris: „Chef, die ist wieder da.“ Und tatsächlich, da unter war sie wieder und suchte nach Verwertbarem. Die Sache war mir gestern Abend nicht aus dem Kopf gegangen. Ich hatte mich gefragt, ob man nicht mehr tun könnte oder müsste, ohne jetzt irgendwie über die Stränge zu schlagen. Ich hatte da schon eine Idee, aber wer weiß, wie die Jungs reagierten. „Wisst ihr was?“, rief ich. „Die teuren Kupferrohre hier, schmeißt die einfach runter.“ „Jetzt ehrlich?“, fragt Zelko. „Jap“, sag ich. „Chef, du meinst es wohl ein bisschen zu gut“, sagt Detlef. „Ich werd aber nicht kürzer treten, nur wegen irgendeiner Flüchtlingsfrau.“ „Mensch Detlef, hab ich je schlecht gezahlt? Das geht natürlich auf meine Kappe“, sag ich etwas genervt und enttäuscht über das Misstrauen. Aber man kann es eben nicht allen recht machen. Während des Tages, schaue ich immer mal wieder raus, ob sie die Kupferrohre auch nimmt. Tut sie. Davon kriegt sie auf jeden Fall erstmal alles, was sie braucht. Am späten Nachmittag fahre ich dann nochmal ins Büro für ein paar Anrufe und Papier. 

Als ich gegen Abend rauskomme, steht die Frau vor mir. „Hallo“, sag ich. „Thank You, I know, you give the tubes”, erwidert sie strahlend. “Man tut, was man kann”, sag ich möglichst bescheiden und geschmeichelt. „May I ask you something rude?“ Was war nochmal `rude´? Meine Vokabelkenntnis ist einfach peinlich. Irgendwie bin ich gespannt, was sie jetzt sagt. „Ja, was denn?“, frag ich. „Please, could you offer me a job? I need it for application for residence in Germany, and for money, so I can take care for my mother-in-law.” Ich gucke etwas überrascht oder entsetzt? Weiß nicht, ich kann mich ja nicht selbst sehen. Ich runzle die Stirn und atme seufzend aus. Keine Ahnung, ob ich mir das leisten kann. „Was können sie denn?“, sondiere ich. Was wird das hier eigentlich, ein Bewerbungsgespräch auf dem Bürgersteig? „In Syria, I work in administration in a company.“ Mh, klingt mir nicht nach handwerklich begabt. Aber wenn sie nur etwas besser deutsch sprechen könnte, könnte ich sie als Art Sekretärin gebrauchen. Dann wär ich auch diesen ganzen Telefon- und Papierscheiß los. „Wissen Sie was?“, sag ich. „Ich sage ihnen morgen Bescheid, was ich machen kann. Ist das okay?“ „O, thank you, vielen Dank“, antwortet Sie etwas ungläubig, aber hoffnungsvoll. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „Ruth“, sagt sie. „Bernd“, sag ich. 

Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen. Ich hatte mir den nächsten Tag frei genommen, um mich nach allen möglichen Dingen zu erkundigen. Rechtliches, Finanzielles und nach Deutschkursen. Dann habe ich am nächsten Tag die frohe Kunde überbracht. Der Deal, den ich mir überlegt hatte, war folgender: Ich stellte Ruth auf 450 Euro Basis an, aber sie besuchte zwei Monate lediglich den Deutschkurs, den ich über die Firma finanzieren konnte. Ab dann konnte ich sie in die Firma einarbeiten, aber nur halbtags, während sie weiterhin deutsch lernte. Das Telefonieren musste ich erstmal noch übernehmen. Aber sie war erstaunlich geschickt mit allen möglichen PC-Geschichten und Verwaltungssachen, die für mich immer nur undurchsichtig und nervig waren. Seit vier Wochen hat sie einen richtigen Arbeitsvertrag. Die Jungs mussten das erstmal schlucken, besonders Detlef. Želko und Boris sind da glaub ich verständnisvoller, weil deren Eltern selbst mit nichts hierher kamen. Aber jetzt, wo sie sehen, dass ich viel mehr Zeit habe, um vor Ort mit anzupacken, haben sich alle Zweifel gelegt. Für die Firma war die ganze Sache schon ein finanzielles Wagnis. Mein Gewinn war ziemlich dünn die letzten Monate, aber so ist das als Selbstständiger. Es geht eben mal hoch, mal runter. Seit einigen Wochen geht’s allerdings hoch. Seitdem Ruth voll mitarbeitet, schaffen wir wesentlich mehr Aufträge. Und die jüngsten Neuigkeiten? Aber behaltet sie für euch! Heute habe ich Ruth gefragt, ob sie mit mir ausgeht. Sie hat Ja gesagt.

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Wie die Menschheit sich von der Freiheit befreite

Es gibt keine absolute, grenzenlose Freiheit. Das wird schnell klar, wenn man kurz darüber nachdenkt. Bleibt also die Frage, welche Grenzen der Freiheit zu setzen sind. Dazu lohnt es sich Larissas Beitrag zu lesen. Sie schreibt, dass Freiheit nicht auf Kosten oder zur Unfreiheit anderer ausgelebt werden sollte. Und um das zu gewährleisten, braucht es ein paar Regeln oder Gesetze. Aber welche? Und wer hat die Autorität solche zu machen? Wer sagt, was richtig und was falsch ist?

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Wenn Freundschaft das Leben kostet


Inspiriert von 1. Samuel 20

„Natürlich will dein Vater mich umbringen! Wie oft hat er es schon versucht, wie oft?! Und immer wieder bin ich zurückgekommen! Und immer wieder hat er es versucht“,  brüllt er mich an, als hätte ich Schuld daran. „Ich kann mit ihm reden. Er würde auf mich hören“, sage ich schlichtend. „Das hast du letztes Mal versucht und wie lange ging das gut, mh? Jedes Mal bin ich wiedergekommen, jedes Mal hab ich seine Kriege gewonnen. Und was ist der Dank? Dass er mich umbringen will?“ Er wird noch ärgerlicher. Ich versuche ihn weiter zu beruhigen: „Ich kann doch auch nichts dafür. Aber wenn er es vorhätte, würde ich es wissen!“ „Einen Scheiß würdest du wissen! Glaubst du ernsthaft, er hätte nicht spitz gekriegt, dass wir Freunde sind? Er würde es dir nicht sagen! Ich glaube, du checkst nicht was hier los ist! Ich komme mit einem Sieg aus dem Krieg zurück, bin gerade angekommen, da muss ich plötzlich fliehen. Und wenn meine Frau, seine Tochter, mir nicht den Arsch gerettet hätte und ihren Vater und König angelogen hätte, würde ich jetzt nicht mehr leben! Jonathan, ich kann  so nicht mehr weiter machen!“ 

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Repost: Haschen nach Wind

Über die Ostertage haben wir ein kleines Special geplant. Wir wollen die Story aus der Sicht verschiedener beteiligter Personen erzählen. Zum ersten Mal auch zum Anhören:


War das alles umsonst? Alles vergeblich? Nur ein Haschen nach Wind? Die Zeichen waren eindeutig! Ich habe es gesehen, mit eigenen Augen. Er war der Messias, der Retter auf den wir tausende Jahre gewartet haben. Die Wunder, die er getan hat, lassen eigentlich keinen Zweifel zu. Eigentlich.

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Repost: Ein Sündenbock für den Frieden

Über die Ostertage haben wir ein kleines Special geplant. Wir wollen die Story aus der Sicht verschiedener beteiligter Personen erzählen. Zum ersten Mal auch zum Anhören:

 

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Höhenflüge

Es ist Mittag. Die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht. Sie brennt gnadenlos auf den Wüstensand. Der Himmel ist komplett blau. Nur ganz weit entfernt sieht man dunkle Wolken. Dort scheint es zu regnen. Aber hier spürt man davon nichts. Hier ist alles trocken. Risse im Boden zeigen, dass es schon lange nicht mehr geregnet hat. Alles, was hier vor der stechenden Sonne schützt, ist ein kleiner Busch. Der einzige weit und breit. Wenigstens etwas. Ich setze mich in den Schatten. Das tut gut. Mein Hals ist ausgetrocknet. Meine Beine müde. Meine Klamotten sind klatschnass. Alles voll geschwitzt. Ob ich jemals so schnell gerannt bin? Ich keuche. Der Puls ist hoch. An den Füßen häufen sich die Blasen. Alles tut weh. Es reicht! Ich will nicht mehr.

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