Zweirad vs. Vierrad – Das Duell

„Hat er sie noch alle? So ein Spinner!“ Das denke ich mir, als mich ein Auto extrem eng und schnell in einer schmalen Einbahnstraße überholt. Sein Nummernschild und sein Verhalten hatten mich schon darauf hingewiesen, dass er sich hier nicht auskannte. Ich hatte ihn vor einigen Augenblicken mit meinem Fahrrad überholt, weil er stehengeblieben war. Vermutlich suchte er nach dem Weg. Mein Manöver hatte ihn offenbar so provoziert, dass er sich zu seiner aggressiven Überholaktion hinreißen ließ.

Die Einbahnstraße endet an einer größeren Straße. Er biegt rechts ab. Ich auch. An der nächsten Kreuzung muss ich links. Also vom Fahrradweg über die Fahrbahn, um mich in der kleinen, extra für Fahrradfahrer eingerichteten Linksabbiegerspur einzuordnen. Er bleibt in der durchgehenden Spur. Da Berufsverkehr ist, ist es sehr voll. Links neben mir Autos und rechts auch. Da ich als Fahrradfahrer einfach auf meiner Linksabbiegerspur vorbei kann, muss ich an ihm und seinem Auto vorbei. Kurz bevor ich vorbeifahre, fällt ihm ein, dass er sich falsch eingeordnet hat und doch links abbiegen will. Er blinkt und will sich jetzt wohl irgendwie noch dazwischen quetschen. Ich bremse, mein Vorderrad auf Höhne seines Hinterrads. Ich bin noch ziemlich geladen von seinem prollig-gefährlichen Überholmanöver und sehe es überhaupt nicht ein, jetzt auf meine Vorfahrt zu verzichten. Unsere Augen treffen sich in seinem linken Seitenspiegel. Während er mich neben seinem Auto sieht, fängt er an links rüber zu ziehen. Seine B-Säule kommt immer näher, es interessiert ihn überhaupt nicht, dass ich eigentlich Vorfahrt hätte.

Damit hat er bei mir gerade ein Toleranzlevel überschritten. Ich bin das schwächste und hilfloseste Glied der Situation, eingeengt zwischen Autos. Er hat zu viel herumgekratzt meinem Gerechtigkeits- und Sicherheitssinn. Er hat zu sehr herumgetreten auf meinem Stolz, meiner Ehre, meiner Autonomie. Und jetzt fordert er das Recht des Stärkeren ein, nutzt seine Macht aus. Ich überlege eine halbe Sekunde, nehme meine rechte flache Hand und knalle ihm damit äußerst beherzt auf sein Dach. Der Schreck sitzt. Ich fahre schnell vorbei. Zu spät macht er seine Tür auf, um mich anzumotzen. Während ich schnell links abbiege, merke ich wie mein Puls vor Euphorie hochgeht. In einem Augenblick die Machtverhältnisse umgekehrt. Stolz, Ehre, Autonomie, Sicherheit und Gerechtigkeit wiederhergestellt – scheinbar. Ich biege rechts ab, folge meinem normalen Weg, als ich bemerke, dass der Kerl mich verfolgt. Er überholt mich, schneidet mir den Weg ab, ich habe keine Chance. Er steigt aus, stürmt auf mich zu, brüllt mich an. Schon etwas bedrohlich, mit seiner Camouflage-Hose. Er will mich an meiner Jacke packen, tickt mir etwas auf meinen Helm, aber laut werden kann ich eben auch: „Fass mich nicht an!“ Meine ganze Körpersprache und Stimmlage drückt Kontrolle und Selbstbewusstsein aus. Er nimmt Abstand und ich lasse einen Satz mit den Wörtern Polizei, Nummernschild und Körperverletzung fallen. Er steigt immer noch schimpfend wieder in sein Auto. Ich fahre weiter, muss direkt links abbiegen. Er gibt nochmal Gas und schneidet mich während ich links abbiege, um dann zu verschwinden.

Wie war es so weit gekommen?

Ich habe diese Schwäche, dass ich sehr allergisch reagiere, wenn Autofahrer keine Rücksicht auf Fahrradfahrer nehmen. Das schneidet sehr scharf und empfindlich in meinen Stolz und meine Ehre ein. Meine Geltungssucht und mein Durst nach Gerechtigkeit nehmen dann überhand. Nicht, dass ich ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden nicht gut heißen würde. Aber tatsächlich ist es meine Schwäche, dass ich da nicht einfach drüber stehen kann. Selbstjustiz für meinen Stolz. Natürlich war das Verhalten dieses Typen nicht in Ordnung und ungerecht, aber ich hätte aussteigen und einstecken können.

„Ihr wisst, dass den Vorfahren auch gesagt wurde: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Doch ich sage euch: Leistet keine Gegenwehr, wenn man euch Böses antut! Wenn jemand dir eine Ohrfeige gibt, dann halte die andere Wange auch noch hin! Wenn einer dich vor Gericht bringen will, um dein Hemd zu bekommen, so lass ihm auch noch den Mantel!“

Matthäusevangelium 5,38-40

Auf den nächsten Metern musste ich dann den Kampf zwischen Stolz, Eitelkeit, Schuld und Scham ausfechten. Gerade als Christ hätte ich ein anderes Verhalten an den Tag legen sollen. Weg vom „Wie du mir, so ich dir“ zum „Wie Christus mir, so ich dir“. Immerhin liebt Jesus diesen Kerl genauso wie mich. Wer weiß schon, warum er so ist, wie er ist? Ist die Gerechtigkeit, die Jesus mir verschafft nicht viel zu groß und vollkommen, als dass ich noch selbst etwas hinzufügen könnte? Es wäre an mir gewesen, diese göttlich-andersartige Gerechtigkeit zu reflektieren. Es wäre an mir gewesen, einzustecken, meinen Egoismus und meine Geltungssucht zu überwinden. Zum Glück ist mein Heimweg lang genug, dass ich um Vergebung für ihn und für mich bitten kann und mir ein altes, lieb gewonnenes Lied in Erinnerung rufen kann:

Gott, lass uns dein Heil schauen
Auf nichts Vergänglich‘s trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Lass uns einfältig werden,
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein.

Matthias Claudius – Der Mond ist aufgegangen

Euer Lukas

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Alltagspropheten Talk #02 – Erwartungen

Erwartungen – das war in den letzten Wochen immer mal wieder Thema auf unserem Blog. Zuletzt in Doro’s Gastbeitrag vom letzten Freitag.

In unserer zweiten Podcastfolge im Talkformat haben wir unsere Gedanken darüber ausgetauscht. Also schnapp dir etwas zu Trinken und ruhige 20 Minuten. Viel Spaß beim Anhören und Mitdenken!

Wie gehst du mit Erwartungen um? Lass es uns wissen und schreib uns deine Gedanken! Entweder direkt hier als Kommentar, per Mail oder auf Social Media.

Für Immer

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NaturWUNDER

Es schneit. Richtig dicke Flocken. Es hat die ganze Nacht durchgeschneit. Die schneebedeckte Straße mit den angrenzenden Vorgärten und Häusern, beinahe unberührt am frühen Morgen, strahlt eine umgreifende Ruhe und Frieden aus. Als wäre es schon immer so weiß und gleichmäßig gewesen und als würde es sich niemals mehr ändern. Leider bin ich etwas in Eile, muss das Auto noch freikratzen und vom Schnee befreien, um dann zügig in die Klinik zu fahren. Zurzeit mache ich eine Famulatur. So nennt man ein fünfwöchiges Praktikum als Medizinstudierender. Eine prima Möglichkeit, Sachen auszuprobieren, um mich am Ende des Studiums entscheiden zu können, in welchem Fachgebiet ich mich spezialisieren möchte. Und gleichzeitig eine Möglichkeit, neue Orte, neue Menschen und Lebensweisen kennen zu lernen. Daher befinde ich mich gerade in Obersöchering, einem 1500-Menschen-Dorf in der Nähe von Garmisch und der Zugspitze im bayrischen Oberland, also quasi weder in, noch vor den Alpen. Vielleicht eher an den Alpen.

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Vom Träumen oder auch: Wie alles begann…

„Aus Träumen wurden Dinge, die wir einfach machten.“1 Als ich neulich dieses Lied hörte, sprach mir die Zeile sofort aus der Seele. Was in den letzten Jahren geschehen war, könnte man nicht besser beschreiben. Diese geniale Einfachheit der Textzeile, die es einfach sowas von auf den Punkt bringt. Träume sind schön und gut, doch sie bleiben Träume, wenn man nicht beginnt sie umzusetzen. Oftmals scheinen sie viel zu weit entfernt. Man wünscht sich etwas, malt sich aus, wie es sein könnte, träumt davon. Doch es bleibt immer nur ein Traum.

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