Alles für die Familie

Neues Jahr, neues Konzept. So läuft das bei Alltagspropheten. Während sich sonst alles verändert, ist Veränderung für uns die einzige Konstante. Eines unserer neuen Formate, die ab jetzt monatlich erscheinen, nennt sich „HIS-STORY-MAKER“. Darin wollen wir aus Sicht derjenigen berichten, mit denen Gott Geschichte geschrieben hat. Einige Bibelgeschichten scheinen nämlich nicht so richtig ins 21. Jahrhundert zu passen. Wir wollen diese Geschichten in verständlicher Sprache nacherzählen &/oder in zeitrelevante Kontexte einbinden.

„Lauft! Laaauuuuft! Und dreht euch nicht um!“, schrie mein Vater von hinten. Ich rannte so schnell ich konnte. Drei Meter vor mir meine Schwester. Es war ohrenbetäubend laut. Es donnerte, aber nicht wie Gewitter, sondern viel, viel mächtiger. Von hinten blies heißer Wind. So stark, dass es schwierig war geradeaus zu laufen. Überall war Staub. Ich konnte höchstens fünfMeter sehen. Und die Erde bebte. Die Welt ging unter. „Lauft! Und dreht euch nicht um!“, schrie mein Vater wieder.

Wieder und wieder spielt sich die Szene in meinem Kopf ab. Ich sitze auf einem Stein, mein Gesicht in den Händen vergraben. Ich bekomme nur schwierig Luft. Meine Lunge ist voll von dem ganzen Staub und ausgetrocknet von dem irre heißen Wind. Mittlerweile ist es still. Totenstill. Man hört gar nichts mehr. Außer dem eigenen Atem. Wir haben es geschafft. Zumindest die meisten von uns. Meine Mutter ist verschwunden. Die letzte Stunde haben wir uns die Seele aus dem Leib geschrien und nach ihr gesucht. Vergeblich. Ich glaube nicht, dass sie es geschafft hat, aber heute werden wir nicht mehr zurückgehen können. Wir sind hier in die Berge gelaufen. Haben gerade zwei Zelte aufgebaut. Ich, meine Schwester und unser Vater. Ich musste mich gerade einmal setzen bevor wir anfangen Essen zu machen. „Komm, trink was und dann geht’s weiter!“, ruft meine Schwester mir zu. Ich raffe mich auf. Trinke einen Schluck. Wir haben so hektisch gepackt, dass keine Zeit blieb zum Brunnen zu laufen, um Wasser zu holen. Das einzige, was wir hier haben, sind unsere Weinschläuche. In dieser Situation ist mir das auch ganz lieb so.

Wir machen Feuer. Während ich etwas trockenes Holz und Gestrüpp zusammen sammle, gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Wie geht es jetzt weiter? Wir sind die einzigen Überlebenden. Kein anderer unserer Verwandten, unserer Freunde und Nachbarn hat es geschafft. Keiner. Wir sind die einzigen. Sie wurden auch nicht gewarnt. Wir wohl gerade noch rechtzeitig. Wir sind die einzigen Überlebenden. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Ich schaue meine Schwester an. Ihr Blick ist leer. Meiner wahrscheinlich auch. „Wie geht es weiter?“, frage ich sie. Sie zuckt die Achseln. „Mit Essen“, erwidert sie sarkastisch. „Ne, mal ehrlich, sag ich. Was wird aus unserer Familie?“, frag ich. „Unsere Familie ist gestorben“, sagt meine Schwester, „es geht nicht weiter.“ Das darf nicht sein. Das kann nicht sein. Das will ich nicht wahrhaben. Meine Schwester scheint meine Gedanken zu hören und zischt: „Verstehst du nicht, wir sind die einzigen hier. Du, Vater und ich. Wir sind nicht verheiratet. Mutter ist weg. Das war’s.“ Ich weiß das, aber ich will es nicht hören. Trotzdem klingt in mir nach, was sie gerade gesagt hat und ein Gedanke reift in mir heran. Wie ein Geschwür. Ein unaussprechlicher Gedanke. Ein böser, furchtbarer, schändlicher Gedanke. Ich versuche ihn zu unterdrücken. Vergeblich. Die Idee ist da. Gibt es denn gar keinen anderen Weg? Ich denke krampfhaft nach. Aber so sehr ich es mir auch wünschen würde, es gibt keinen. „Nein, es muss nicht vorbei sein“, sage ich entschlossen und mit zusammengebissenen Zähnen. „Und du weißt, was ich meine“, flüstere ich. Meiner Schwester fällt der Löffel aus der Hand. „Spinnst du?“, knirscht sie. „Nein, es geht nicht anders. Es ist der einzige Weg und es ist unsere Verantwortung, vielleicht unsere Pflicht. Das weißt du auch“, sage ich leise. Unerträglich lange bleibt es still zwischen uns. „Und wie willst du das anstellen?“, flüstert sie mir zu. „Wir haben gerade nur Wein zu trinken, wir wollen alle vergessen oder es wenigstens etwas leichter nehmen, und wir alle haben einen irren Durst nach der Hitze, und dem Staub und der Flucht. Ich werde ihn eindringlich erinnern, dass er viel trinken muss nach einem solchen Tag. Er ist eh etwas durch den Wind. Und dann, heute Abend, naja, gehe ich zu ihm ins Zelt. Ich bin die Ältere von uns, ich werde es zuerst tun“, erkläre ich ihr schweren Herzens mit viel Selbstekel und fühle mich abscheulich. Ich glaube, ich kann heute nichts mehr essen. „Na gut, okay. Wenn du es auch machst, zieh ich mit. Es ist unsere Verantwortung. Nur wir haben es in der Hand, dass es mit unserer Familie weitergeht“, sagt sie. Jetzt redet keiner mehr. Der fürchterliche Plan steht. Die Entscheidung ist gefallen. Es ist unsere Pflicht.

In der alt-orientalischen Kultur ist die Bedeutung und der Fortbestand der Familie kaum zu unterschätzen. Frauen wurden vor allem nach dem Gebären insbesondere männlicher Nachkommen definiert und definierten sich selbst darüber. Die Geschichte reflektiert die Begebenheit, wie nur Lot und seine zwei Töchter den Untergang Sodoms und Gomorrhas überlebten und die Töchter den Fortbestand ihrer Sippe sichern, indem sie Kinder mit ihrem eigenen Vater zeugen (vgl. Genesis 19). Diese Entscheidung ist für uns im Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht einfach nachzuvollziehen, da Kinderlosigkeit in der Regel nicht als Schande aufgefasst wird und keine Identitätskrise nach sich ziehen muss – zum Glück. Diese Geschichte soll dazu beitragen, Verständnis für Frauen in stark patriarchalischen Kulturen zu schaffen, deren eigene Daseinsberechtigung sich maßgeblich durch das gebären von Nachkommen zum Fortbestand der Familie definiert – auch heute noch.

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