„Und was, wenn wir einfach wegfahren?“
— aus TSCHICK von Wolfgang Herrndorf
„Was?“
„Urlaub machen. Wir haben doch nichts zu tun. Machen wir einfach Urlaub wie normale Leute.“
„Wovon redest du?“
„Der Lada und ab.“
„Das ist nicht ganz das, was normale Leute machen.“
„Aber könnten wir, oder?“
Das ist für mich der Inbegriff von Sommerpause. Das ist eine Konversation wie mein Verlobter Fabian und ich sie ab und an führen. Das ist wie wir Urlaub machen. Spontan. Einfach. Unkompliziert. Matratze und Schlauchboot in den Peugeot 307 werfen und losfahren. Abgelegener See googeln und am Rennsteig in einen winzigen, eiskalten Bergsee springen. Im Thüringer Wald unter dem Sternenhimmel liegen während drei Dörfer weiter “Safe and Sound” von Capital Cities vom Dorffest rüber weht. Irgendwo aufwachen und feststellen, dass genau da der schönste Ort der Welt ist.
Es muss nicht immer eine Reise ans andere Ende der Welt sein. Manchmal reicht für ein Abenteuer schon eine ans Ende der Straße. Oder eine in den neueren Teil der Bundesrepublik Deutschland. Weil Sommergefühle und Abenteuer auch direkt hier in Deutschland zu finden sind. Und, weil die ehemalige DDR das vielleicht größte aller Abenteuer ist.
Dieses Konzept der simplen, spontanen Alltagsauszeiten nennt sich Mikroabenteuer. Spätestens seit Corona wissen die meisten von uns wahrscheinlich was Mikroabenteuer sind, auch wenn wir den Dingen, die wir so erlebt haben, vermutlich nie dieses Label gegeben hätten. Wen das interessiert, es gibt vom Reportagemagazin GEO in der Outdoorausgabe WALDEN eine ganz großartige Zeitschrift zum Thema. Genau dieses Heft ist mir auf einer der Touren in das wunderschöne Ostdeutschland in die Hände gefallen. Plötzlich gab es da ein Wort für unsere Art Urlaub zu machen.
Mikroabenteuer. Spontane Alltagsausflüchte und Abenteuer, die jeder in seiner Umgebung erleben kann. Das Collins Wörterbuch definiert es als „adventures that are close to home“ (Abenteuer in der Nähe von Zuhause). Quasi ein Outdoor-Erlebnis vor der eigenen Haustür. Die New York Times beschreibt es als „short, perspective-shifting bursts of travel closer to home, inspiring followers to pitch a tent in nearby woods, explore their city by moonlight, or hold a family slumber party in the backyard“. Zu deutsch: Kurze, spontane, horizonterweiternde Reisen nahe an Zuhause, die dazu inspirieren, in nahe gelegenen Wäldern ein Zelt aufzubauen, die eigene Stadt im Mondlicht zu erkunden oder eine Familienpyjamaparty im Hinterhof steigen zu lassen.
Ich habe mich dann gefragt, warum wir eigentlich überhaupt reisen? Genau deswegen. Weil wir unseren Horizont erweitern wollen. Weil wir neue Orte entdecken wollen. Weil wir etwas erleben möchten. All das ermöglichen Mikroabenteuer ebenso wie lange Reisen ins Ausland. Weiße Flecken auf der Landkarte gibt es ohnehin quasi nicht mehr. Und wenn wir mal ehrlich sind, an die komplett unentdeckten Orte, würden wir ja eh nicht reisen. Und wenn wir noch ein bisschen ehrlicher sind, ist Ostdeutschland für viele der vielleicht größte weiße Fleck auf den Landkarten. Je länger ich in der Rhein-Neckar Region wohne, desto mehr wird mir bewusst, dass so viele Menschen leider von Ostdeutschland absolut keine Vorstellung haben. Noch nie da waren. Teilweise nicht mal wissen, welche Bundesländer es da eigentlich noch so gibt.
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen. Berlin mal außen vor gelassen.
Dieser Text ist ein Plädoyer auf eben diese Bundesländer, ein Plädoyer auf Ostdeutschland. Eine formfreie Überzeugungsrede, in der man Menschen von einem Standpunkt überzeugen möchte. Und genau das werde ich jetzt tun. Als diejenige, die immer ins Ausland wollte, raus aus der deutschen Bürokratie, weg von der Spießigkeit, rein ins Abenteuer. Am liebsten für immer. Diejenige, die im Erzgebirge nie ganz ernst genommen wurde, weil wir immer die Zugezogenen waren. Diejenige, die in Sachsen nie ganz angekommen ist und sich inzwischen keinen besseren Ort mehr vorstellen kann – sowohl als Urlaubsziel als auch als Heimat. Allerdings kann ich diesen Text nicht nur auf Ostdeutschland beschränken, weil ich die ganze Bundesrepublik Deutschland liebe. Eine Freundin aus Nordhausen hat mir eine Liste mit ihren Lieblingsorten im Harz geschickt und meinte dann im Nachhinein, dass einige der Orte in Niedersachen liegen. Aber das ist eben im Harz so bisschen das Ding, weil es den Ostharz und den Westharz gab. Inzwischen verläuft da keine Grenze mehr, sondern wir befinden uns in einem vereinten Deutschland. Ohne Mauer, ohne Grenze, ohne Ausgrenzung. Mit Demokratie, mit Offenheit, mit Nächstenliebe.
Und wenn ich sage, ich liebe Deutschland, muss ich mich zeitgleich von vielen anderen Sachsen distanzieren, die genau das sagen – aus anderen Intentionen heraus. Ich liebe Deutschland, weil es Geschichte hat. Und weil diese Geschichte uns einiges zu lehren hat, wenn wir bereit sind zurückzuschauen und gleichzeitig weiterzudenken. Ich liebe Deutschland, weil es Natur hat. Und weil diese Natur uns zurück zum Wesentlichen bringt. Ich wüsste nicht, wo ich Ruhe finden sollte, wenn nicht inmitten einer gigantischen und wunderschönen Schöpfung. Ich mag, dass Handyempfang dort oft schwierig ist. Ich mag das Gefühl, dass ein Ort für einen kleinen Moment nur einem selbst gehört. Und letztendlich liebe ich Deutschland, weil hier alles zu finden ist. Meer, Flachland, Seenplatten, Mittelgebirge, Wald, Hochgebirge. Also wieso in die Weite reisen, wenn das Schöne so nah liegt?
Ich bin so viele unzählige Male die A5/A4 quer durch Deutschland gefahren. Vom Odenwald, durch die Rhön, den Thüringer Wald, das Vogtland und das Erzgebirge. Und jedes Mal geht mein Herz auf, sobald auf dem blauen Schild Eisenach steht und der Radiosenderempfang auf Durchzug schaltet und da nur noch Stille, Wald und Schönheit sind. Jedes Mal pure Liebe, wenn die Sonne in meinem Rücken untergeht und die Straße in Gold getaucht vor mir liegt. Jedes Mal unendlicher Friede, wenn Dunkelheit sich auf dieses Land legt und die Anzahl an Autos um mich herum sinkt und da nur noch Stille, Weite und ein paar Scheinwerferlichter sind. Ich bin so gerne auf diesen Straßen unterwegs.
Ich bin so besonders gerne in Ostdeutschland, weil die Menschen dort anders sind. Ich könnte gar nicht genau beschreiben, wie sich dieses “anders” ausdrückt – zumal auch Ostdeutschland keine homogene Masse ist, sondern ganz verschiedenen Menschen und Lebensräume. Aber ich habe nirgendwo ein solches Verlangen nach Wandel gefunden, während man mit all dem zufrieden ist, was man hat. Der Inbegriff von Zufriedenheit ohne Stagnation. Grade junge Menschen im Osten sind sehr idealistisch und haben den Traum von einem Deutschland, das Fairness lebt. Gleichzeitig gehen so viele junge Menschen weg, weil es scheinbar keine Zukunft für große Teile des deutschen Ostens gibt. Ich weigere mich das zu glauben. Ja, es gibt so viele Städte mit mehr als zehn Prozent Wohnungsleerstand. Schwerin, Zwickau, Halle, Gera, Görlitz, Chemnitz, Dessau. Von den Dörfern und der Landflucht mal ganz zu schweigen. Aber im gleichen Moment ist Leipzig das neue Berlin. Dresden ist schöner als Paris. Erfurt ist die zweitschönste Stadt der Welt. All das mögen subjektive Aussagen sein, aber umso mehr ein Grund herauszufinden, ob das stimmen kann. Umso mehr ein Grund sich diese Orte anzuschauen. Und wer das wahre Ostdeutschland sehen will, nimmt sich eben die teilweise leerstehenden Städte als Reiseziel vor. Chemnitz wird oft als hässlich umschrieben, eigentlich hat es einen ganz individuellen industriellen Charme. Und es beeindruckt mich, wie viel Platz im Osten ist, wie viele Orte es zu erkunden gibt. Da ist so viel Raum zu gestalten, so viele Baggerseen zu entdecken, so viele Kaliberge (Abraumhalden aus dem Kalisalzbergbau) zu erklimmen. Wir Millennials stehen doch auf außergewöhnlich. Wieso suchen wir das immer im Ausland?
Meistens weiß ich, wenn ich wegfahre, wohin ich unterwegs bin. In Ostdeutschland wusste ich das selten. Da war ich immer einfach unterwegs irgendwohin. Unklar mit welchem Ziel ich grade durch die Gegend fahre. Da war alles ein großes Abenteuer und ein auf der Suche sein. Und meistens weiß ich, wenn ich mich unterhalte, was ich sagen möchte. In der ehemalige DDR war mir viel zu oft unklar, was ich hier grade zu sagen habe. Dieser Fleck Erde ist die ungläubigste Region der Welt. Ein trauriger Superlativ. Aber einer, der es ermöglicht, einen Unterschied zu machen. Einer, der mir bewusst macht, dass ich Gott bei allem, was ich tue, durchscheinen lassen kann. Einer, der mich lehrt, dass mein gelebter Glaube nicht unbemerkt bleibt. Und vor allem einer, der mich Mut lehrt. Mut, zu dem zu stehen, was ich glaube – auch wenn ich damit vielleicht allein auf weiter Flur bin.
Und diese Ziellosigkeit in meinen Ausflügen und meinen Gesprächen war vermutlich das Beste, das so passieren konnte. Weil jeder Umweg und jede Konversation mich nur ein Stück näher dahin gebracht haben diese Gelassenheit und Zufriedenheit zu lernen, die Ostdeutschland so gut kann.
Letztendlich gilt für Ostdeutschland, das Gleiche wie in jedem anderen Land auch. Wenn ihr die Kultur kennenlernen wollt: Redet mit den Leuten. Fahrt auf die Dörfer. Hört unterwegs das MDR Sputnik Radio. Nehmt die weniger befahrenen und besuchten Wege und Orte.
Und weil ich gefragt wurde, was man denn nun unbedingt in Ostdeutschland gesehen haben sollte. Hier ganz persönliche Lieblingsorte – gesammelt von den wunderbaren Menschen, in meinem Leben. Danke an euch alle! Die fettgedruckten sind meine Top 10. Wenn ihr weitere Vorschläge habt, gerne in die Kommentare schreiben 🙂
Thüringen:
- Eisenach
- Altstadt
- Wartburg
- Drachenschlucht
- Erfurt
- Altstadt & Krämerbrücke
- Dom & Domplatz
- Zitadelle Petersberg (unbedingt oben die Schaukeln ausprobieren!)
- Weimar
- Altstadt
- Deutsches Nationaltheater
- Schloss Belvedere
- KZ Buchenwald
- Jena
- Planetarium
- Paradiespark & Saale
- Schleicher See
- Jenzig & Fuchsturm
- Kulturzentrum Kassa hinterm Westbahnhof
- Bestes Panorama: Parkhausdach ehemalige Schiller Passage
- Bestes Essen: Fritz Mitte in der Neugasse
- Beste Kneipe: Zuhause Bar an der Stadtkirche
- Beste Gemeinde: Lutherhaus & SfC Jena
- Thüringer Wald
- Rennsteig
- Rennsteigtunnel (längster Straßentunnel Deutschlands)
- Oberhof
- Neustadt am Rennsteig
- Bergsee Ebertswiese bei Floh-Seligenthal
- Ziemestaltbrücke (bester Geheimtipp Deutschlands!)
- Saaleschleife bei Ziegenrück (Teufelskanzel)
- Schwarzatal
- Nationalpark Hainich & Baumwipfelpfad
- Leuchtenburg Kahla & Porzellankirche
- Bleilochtalsperre
- Hohenwarte-Stausee
- Kyffhäuserdenkmal
Sachsen:
Wunderschönes Video zu Impressionen & Mikroabenteuern in Sachsen: https://www.youtube.com/watch?v=3sCPB1sx8LI
- Dresden
- Altstadt (Semperoper, Frauenkirche, Zwinger, Brühlsche Terrassen)
- Elbufer
- Szeneviertel Neustadt & Alaunplatz
- Kulturzentrum Scheune
- Gemeinde: Zeal Church Dresden
- Leipzig
- Völkerschlachtdenkmal
- Cospudener See
- Gemeinde: Jesus Freaks Leipzig & Elim Leipzig
- Chemnitz
- Nüschel (Karl-Marx-Monument)
- Innenstadt & Roter Turm Galerie
- Stausee Oberrabenstein
- Freiberg
- Besucherbergwerk Reiche Zeche
- Alte Elisabeth
- Dom
- terra mineralia (größte Mineraliensammlung der Welt – klingt nerdy, ist aber ziemlich nice!)
- Alte Porzellanfabrik Porzelline (Lost Place)
- Gemeinde: Jakobi-Christophorus Gemeinde Freiberg
- Meißen
- Albrechtsburg
- Dom
- Porzellanmanufaktur
- Schlösser & Burgen
- Schloss Augustusburg
- Schloss Moritzburg
- Burg Rabenstein
- Festung Königstein
- Natur
- Fürst Pückler Park Bad Muskau
- Talsperre Eibenstock
- Senftenberger See
- Lausitzer Seenland
- Sächsische Schweiz/Elbsandsteingebirge
- Bastei
- Schrammsteine
- Bad Schandau
- Übernachtung für Naturfreunde: Boofen (googelt das einfach mal)
- Erzgebirge
- Schwartenberg
- Fichtelberg
- Göltzschtalbrücke (höchste Ziegelsteinbrücke der Welt)
- Seiffen
- Freizeit- und Erlebnisbad „Aqua Marien“ Marienberg
- Silberstraße von Zwickau nach Dresden
Die Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří (Sachsen/Tschechien) ist übrigens der neueste, deutsche Eintrag in die UNESCO Welterbeliste! Genau dort habe ich den besten Sommer meines Lebens verbracht. Genau genommen habe ich dort die allermeisten Sommer meines Lebens verbracht, aber dieser eine Sommer war außergewöhnlich. Wir haben auf Halden gepicknickt, waren in Bergwerkschächten wandern, haben Roadtrips über die Grenze nach Tschechien auf der Simme oder im Golf 3 unternommen, waren in alten Porzellanfabriken lost placen, haben Sterni in alten Flugzeugerhangars getrunken. Ich kann euch jede einzelne dieser Aktionen nur wärmstens ans Herz legen!
Sachsen-Anhalt:
- Nationalpark Harz
- Rappbodetalsperre
- Thale
- Bodetal
- Wernigerode
- Quedlinburg
- Sophienhof (Thüringen)
- Neustädter Talsperre (Thüringen)
- Braunlage (Niedersachsen)
- Okertalsperre (Niedersachsen)
- Saale-Unstrut-Tal (da kann man wunderbar Radfahren!)
- Naumburg
- Gradierwerk Schönebeck
- Magdeburg
- Bestes Dorf: Eggersdorf (unbedingt in der Pension Rita Koch übernachten!)
Brandenburg:
- Spreewald
- Mark Brandenburg
- Gutshof Michelfeld
- Lehnitzsee
Mecklenburg-Vorpommern:
- Rügen
- Schlossruine Dwasieden Sassnitz (Lost Place)
- Leuchtturm Sassnitz
- Nationalpark Jasmund & Königsstuhl (Kreidefelsen)
- Kap Arkona
- Greifswald
- Kühlungsborn (unbedingt mit Molli durch die Gegen touren!)
- Zingst
- Usedom
- Müritz (größter gesamtdeutscher See)
Beitragsbild ist auf der Ziemestalbrücke im Thüringer Wald entstanden. Aufgenommen vom wunderbaren Fabian. Danke!