Das kann nicht sein! Schockiert starre ich an die Uhr an der Wand. Tatsächlich. Es ist 10:00. In Worten: zehn Uhr! Nicht Abends. Morgens. Ich habe mich doch gestern nur kurz mal hingelegt. Um vier. Nicht Morgens. Nachmittags. Es sollte nur ein Powernap werden. Aber der ist wohl hart eskaliert. Nach 18 Stunden Schlaf wird mir bewusst, was ich meinem Körper in den letzten Monaten angetan habe. Es war eindeutig zu viel!
Hinter mir liegen vier unglaublich ereignisreiche Wochen Zeltlager. Vier Wochen konstant unter Strom. Vier Wochen in denen ich mich nonstop um andere kümmern musste. Vier Wochen mit einem Maximum von sechs Stunden Schlaf pro Tag. So viele Eindrücke. So viele Beschäftigungen. Kein Wunder, dass mein Körper irgendwann »Stopp« sagt. Es war eindeutig zu viel.
Dass es zu viel war, beweist schon ein Blick in die Kalender App auf meinem Handy. Eine schier endlose Liste an Terminen. In der Hoffnung, dass ich wichtige Dinge nicht verpasse, ist jeder Termin mit einer noch auffälligeren Farbe versehen als ein anderer. Übersichtlicher hat es das Ganze aber trotzdem nicht gemacht. Viele Termine habe ich verballert. Und wären da nicht die wandelnden Terminkalender in Form von Freunden, meiner Mutter oder meinen Geschwistern, wäre diese Quote wohl deutlich höher ausgefallen. Ich merke, es war eindeutig zu viel.
Ach ja… Was ich ganz vergessen habe zu erwähnen: Das war zu allem Überfluss mitten in der Prüfungsphase. Jede freie Minute war also entweder mit Lernen oder dem schlechten Gewissen, nichts getan zu haben, gefüllt. Tatsächlich. Es war eindeutig zu viel.
Ich sitze jetzt also hier. Zum ersten Mal wieder am Durchschnaufen. Keine Termine und Verpflichtungen. Und ich frage mich, wie es nur zu dem Terminchaos kommen konnte. Ich muss feststellen: der Grund allen Übels ist ganz klein. Man könnte ihn beinahe übersehen. Es ist das kleine aber mächtige Wörtchen »Ja«.
In zwei Wochen ist ein Konzert. Kommst du mit? Ja.
Am Dienstag ist eine wichtige Besprechung. Bist du da? Ja.
Das Präsentationsvideo für unser Uni-Projekt steht immer noch nicht. Kannst du das nicht einfach machen? Ja.
Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen! Hast du nächstes Wochenende Zeit? Ja.
Wir bräuchten bis September ein neues Logo. Kriegst du das hin? Ja.
Ich baue am Samstag an unserer Terrasse weiter. Kannst du mithelfen? Ja.
Wir bräuchten noch jemanden, der am Samstag Fotos macht. Hast du Lust? Ja.
Auf unserem Zeltlager fehlen noch viele Mitarbeiter. Es könnte sein, dass wir nicht alle Kinder mitnehmen können. Machst du mit? Ja.
Viele „Jas“ später, und der Kalender ist picke packe voll. Und das nicht unbedingt mit Dingen, die mir keinen Spaß machen. Konzerte, ins Kino gehen, Freunde besuchen. Alles coole Sachen. Und auch die Jobs, die ich angenommen habe, machen mir ja Spaß! Aber wenn ich mich entscheiden muss, wird’s problematisch. Nein sagen fällt mir unheimlich schwer.
Als Kind fiel bei mir oft der Satz: “Mama, mir ist soooooo langweilig. Was soll ich machen?” Langeweile und Nichtstun ist meine größte Hassvorstellung. Wenn ich im Urlaub einfach mal nur auf der Couch gammel oder am Strand vor mich hinbraten soll, werde ich verrückt. Man könnte doch so viel unternehmen.
Ich kämpfe also seit je her gegen die Langeweile, obwohl das mittlerweile gar nicht mehr nötig ist. Wenn es irgendetwas zu tun gibt, dass auch nur halbwegs spannend klingt, versuche ich es möglichst irgendwie in meinen Terminkalender zu pfriemeln. Auch, wenn es nur ein Vormittag ist.
Langeweile? In keiner Zeit komme ich auf so viele Ideen oder entdecke ich so viel Neues, wie in Zeiten in denen ich nichts zu tun habe. Aus Langeweile habe ich damals die Kamera für mich entdeckt. Aus Langeweile habe ich angefangen, die Kinderstunden in der Kirche zu besuchen. Aus Langeweile habe ich angefangen, über mein Leben nachzudenken und Texte zu schreiben. Vermutlich wäre ich sonst nie Teil dieses Blogs geworden. Es sind die ereignisloseren Tage, in denen ich Gott besser kennenlerne, in denen ich mehr Zeit habe mit ihm zu reden und zu schauen, was er sagt. Langeweile empfinde ich mittlerweile als etwas sehr Wertvolles. Doch Erfindungen wie mein Handy verleiten mich mehr und mehr dazu, selbst die wenigen freien Minuten zwischendrin auszufüllen.
Zeiten, in denen ich mit meinen Gedanken ganz woanders sein kann.
Zeiten, in denen ich mich niemandem gegenüber rechtfertigen muss.
Zeiten, in denen ich einfach ganz da sein kann.
Zeiten, in denen ich nur mit Gott und sonst niemanden Zeit verbringe.
An diesen Zeiten mangelt es mir und ich möchte sie mir unbedingt zurückholen. Um das zu erreichen muss ich „Nein“ sagen lernen. Ich muss aufhören, mich mit unnötigen Sachen zu beschäftigen. Lasst uns miteinander ein bisschen mehr Langeweile haben. Vor allem wenn es mal wieder drunter und drüber geht.
Text: Philipp Jenny
Bild: Javier Canada
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