Verschleunigt und zerhastet

„Mist – Polizeikontrolle!“ Ich bin ad hoc im biologischen „Gefahrenmodus“ und zu 100% wach. Pupillen weit, Muskelspannung hoch, glasklarer Kopf. Ich weiß, ich habe jetzt ungefähr zwei Sekunden Zeit, um mir zu überlegen, wie ich diese Situation am besten meistern kann. Eine Strategie muss her! Das Ziel: kein Geld bezahlen.

Schritt 1: Unbeschwertheit, Überraschung und leichte Verträumtheit ausstrahlen. Quasi mein Zustand von vor drei Sekunden. Das wirkt erstmal etwas sympathisch. Ich fahre also vor bis zur Treppe und steige erst dann ab, als wäre nichts gewesen und ganz wichtig: kein Blickkontakt mit dem Polizisten! Sonst verliert das Ganze seine Authentizität und der Plan scheitert. Die Treppe hinunterschieben, dabei verträumt aussehen!

Der Polizist macht einen Schritt auf mich zu. Ein letztes Fokussieren und dann kommt der entscheidende Erstkontakt, das Abtasten und „Beschnuppern“ und damit Schritt 2. Hochschauen. Augenkontakt. Dann von verträumt auf überrascht mit einer kleinen Prise Schreck umschalten. Zu sehr geheuchelt ist es nicht, da ich zum ersten Mal seit über drei Jahren hier kontrolliert werde. „Entschuldigung, haben Sie das Schild dort gesehen?“, grummelt der Polizist.

Schritt 3. Die erste Sympathie wurde geweckt. Jetzt geht es darum, sich durch positives Verhalten von den meisten anderen Menschen, die er heute angehalten hat, zu unterscheiden, um sich auszuzeichnen und sein Wohlwollen zu gewinnen – wie ein Tänzchen, von dem er nichts merken darf. Das bedeutet: hundertprozentige Einsicht des eigenen Fehlverhaltens, Wertschätzung für seine Arbeit, vollständigkeitshalber ein Argument für mein Fehlverhalten und dann ein schamerfülltes Geloben von Besserung. Lügen kommt nicht in Frage. „Doch ich kenne das Schild, man darf auf dem Wehrsteg kein Fahrrad fahren, ich bin schon zu spät dran auf dem Weg in die Uni.“ Das ist wahr. Zu spät, wie fast immer, aber das weiß er nicht. Ich habe gerade Fakten aneinander gereiht, die für mich keinen Zusammenhang haben, weil es mir Wurst ist, ob ich 10 Minuten später in der Vorlesung sitze. Bei ihm erweckt das aber den Anschein einer latent dramatischen Situation. An dieser Stelle noch etwas Reue und ein klein wenig Verzweiflung mimisch ausdrücken – das sollte helfen! „Trotzdem…“. Er setzt zur Moralpredigt an: letztens gab es hier wohl einen Unfall wegen der Fahrradfahrer, wegen Leuten wie mir werden Steuergelder unnötig für Polizeieinsätze verbraten und so weiter und so fort. Er ist voll in seinem Element. Ich kann nicht ganz aufmerksam zuhören, weil ich mich so darauf konzentriere so auszusehen, als würde ich sehr aufmerksam, einsichtig und interessiert zuhören.

Schritt 4. Er beendet seine Predigt. Jetzt kommt das ganz große Finale! Der nächste Satz muss kurz und prägnant sein. Ich meine ihn auch wirklich sehr ernst. „Sie haben völlig Recht und ich finde es wichtig und richtig, was sie hier tun. Ich bessere mich. Ab morgen schiebe ich. “ Jetzt kommt das große Urteil, „Win or Die“, die Ernte für meinen Auftritt, für mein Spiel, meinen Tanz…

„Sie können weiter fahren.“ Sieg – tosender Applaus, brausende Jubelschreie, Standing Ovations, aber nur in meinem Kopf. Ziel erreicht! Was für ihn ein normales, vielleicht erfrischendes Gespräch war, war für mich ein eiskaltes und abgezocktes Psycho-Spiel. Doch auch ich muss jetzt mindestens eine Wunde lecken. Ich weiß, ich werde ab jetzt über den Wehrsteg schieben, weil ich es ihm quasi versprochen habe und lügen ist wie gesagt keine Option. Das wird enorm herausfordernd! Ich bin unheimlich gerne schnell, bzw. effizient und sehr ungeduldig, wenn mich etwas darin einschränkt. Der größte Albtraum sind öffentliche Verkehrsmittel, die man nicht schneller machen kann. Ich liebe es einfach mein Zeitmanagement zu optimieren, zu kontrollieren oder besser noch: Zeit zu sparen.

Zeit sparen – das erscheint mir schon länger paradox. Als würde man Zeit sammeln und sie auf ein Konto schieben. Was ein Bullshit! Man meint damit ja eigentlich: in der gleichen Zeit mehr zu schaffen oder Zeit zu haben, um etwas Neues zu tun.

Zeit haben – auch so eine komische Phrase. Als würde man Zeit besitzen. Und mancher sagt noch: „Du hast ja auch mehr Zeit als ich.“ So ein Quatsch. Jeder hat 24 Stunden jeden Tag und in der Regel 365 davon im Jahr. Dann kommt es schließlich darauf an, wie lange man lebt.

Zeit nehmen – das kommt dem Ganzen schon etwas näher. Allerdings hinkt auch das. Man kann die Zeit ja nicht nicht nehmen. Sie ist ja einfach da.

In solchen Situationen hilft nur der Rat von einem… natürlich Gandalf. In den Tiefen von Moria sagt Frodo zu ihm: „Kein Bock mehr auf den Ring und so“ (freie Übertragung). Darauf antwortet Gandalf: „Das tun alle, die solche Zeiten erleben, aber es liegt nicht in unserer Macht das zu entscheiden. Wir dürfen nur entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen wollen, die uns gegeben ist.“ (Der Herr der Ringe – Die Gefährten) Ein epischer Moment in einem der besten Filme, die jemals gedreht wurden.

Was sagt mir das? Mit der Zeit etwas anfangen. Ich denke, es wäre sinnvoll zu sagen: sich die Zeit einteilen, vielleicht sogar Zeit investieren. Warum stört es mich so, dass ich über den Wehrsteg laufen muss? Wir reden hier schließlich über maximal zwei bis drei Minuten. Hab ich so eine Abneigung dagegen, meine Zeit falsch zu investieren oder zu verschwenden? Möglicherweise sogar Angst davor? Ja, habe ich. Deswegen liebe ich wohl effektives Zeitmanagement und Schnelligkeit. Aber bei zwei Minuten? Ernsthaft? Wenn man rational überlegt: macht es mir etwas aus, dass ich zwölf statt zehn Minuten zu spät in die Vorlesung komme? Eindeutig, nein. Warum nervt es mich dann zu schieben? Es liegt wohl daran, dass Schnelligkeit für mich einen Wert an sich hat – ein erstrebenswerter Grundwert, der mein Denken und mein Handeln bestimmt. Das dramatische an der Sache ist, dass dieser Wert jegliche Referenz, jeden Bezug verloren hat. Er hat sich komplett verselbstständigt. Es geht nicht mehr darum, schnell zu sein, um etwas Höheres zu erreichen. Nein, Schnelligkeit an sich ist der höhere Wert – wie pervers.

Verselbstständigte Geschwindigkeit als Eigenwert ist ein Problem, dass unsere Kultur erworben hat. Früher, vor 50 Jahren, war das noch nicht so krass. Damals hatte z.B. Arbeit einen Eigenwert. Das leuchtende Bürolicht nach 22 Uhr galt gewissermaßen als Statussymbol. Heute reden wir nicht mehr über Arbeit, sondern über Leistung. Physikalisch bedeutet das Arbeit pro Zeit. Schneller arbeiten, damit man am Ende des Tages Zeit für die wichtigeren Dinge hat. Work-Life-Balance. Ein abartiges, unmenschliches Propagandawort des individualisierten Kapitalismus, das die Arbeit als solche abwertet und uns schließlich noch konsumgeiler macht. Der Zeitgeist.

Mein morgendlicher Gang über den Wehrsteg wurde zu meinem stillen Widerstand dagegen. Mein Training, um mich daran zu erinnern, mich nicht vom Zeitgeist und der verselbstständigten Schnelligkeit stressen zu lassen. Jetzt darf ich entscheiden, was ich mit den zwei Minuten auf dem Wehrsteg anfangen will. Es sind nur zwei Minuten, aber wenn ich mich erinnere was ich allein in den letzten zwei Wochen dort erlebt habe, schiebe ich jeden Tag etwas lieber. Einmal konnte ich zwei Minuten einfach ein Naturspektakel bewundern. Auf der Westseite des Stegs, wo ich herkam, dichtester Nebel über dem Fluss. Ein halbe Stunde lang bin ich da durch geradelt und konnte höchstens 20 Meter weit sehen. Auf der Ostseite des Wehrstegs – strahlend blauer Himmel und die aufgehende Sonne über Heidelberg. Dieses Bild wurde für mich zum Symbol für das, was ich erlebt hatte und was das Psycho-Tänzchen mit dem Polizisten in Gang gesetzt hatte. Befreiung aus dem Nebel des verschleunigten und zerhasteten Schnelligkeitswahn, um mal wieder klar zu sehen. Hätte er mich bestraft und hätte ich bezahlen müssen, wäre mir das vermutlich gar nicht aufgefallen.

Lukas


Vielen Dank an Joschka Moravek für das Foto.

Inspiriert durch den Artikel „Faulheitsprinzip: Die Kunst des produktiven Nichtstuns“ auf www.zukunftsinstitut.de

2 Gedanken zu „Verschleunigt und zerhastet

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