Neues Jahr, neues Konzept. So läuft das bei Alltagspropheten. Während sich sonst alles verändert, ist Veränderung für uns die einzige Konstante. Eines unserer neuen Formate, die ab jetzt monatlich erscheinen, nennt sich „HEARTCORE“. Darin wollen wir das teilen, was uns gerade auf dem Herzen liegt und was uns beschäftigt. Seien es persönliche oder gesellschaftspolitisch relevante Themen – oder alles dazwischen. Heute geht es los mit dem ersten Text von Lukas, in dem er sich fragt, was eigentlich zwischen Leben und Tod passiert.
Hast du schon mal darüber nachgedacht, wann genau das Leben endet? Das ist ja schon etwas merkwürdig. In einem Moment lebt man und im nächsten ist man tot? Was ist denn dazwischen passiert? Klar, irgendwann passiert alles zum letzten Mal. Der letzte Herzschlag, der letzte Atemzug, die letzte Hirnaktivität. Allerdings gibt es ja auch Menschen, die wiederbelebt werden. Die waren ja nicht richtig tot. Man spricht dann von Herz- und Atemstillstand. Wenn diese zu lange dauern, ist der Zug irgendwann abgefahren. Der Körper war zu lange unterversorgt und ist in dieser Zeit zu kaputt gegangen, um wieder richtig funktionieren zu können. Und irgendwo auf dieser Strecke muss man dann ja gestorben sein. Also liegt zwischen Leben und Tod wohl doch mehr als nur ein einziger Moment. Diese Zeitspanne verwirrt und fasziniert mich, weil man dort offensichtlich weder lebendig, noch tot ist. Was ist man dann?
Ich habe mich das schon öfter gefragt. Zuletzt gab es erneut Anlass dazu, weil ich zwei Menschen in dieser merkwürdigen Phase angetroffen habe. Im letzten Monat habe ich in der Notaufnahme gearbeitet. Dort kommen manchmal Menschen mit dem Krankenwagen an, während sie reanimiert werden. Wenn das Herz dann nicht wieder anfängt zu schlagen, hört man irgendwann auf zu reanimieren. Dann sagt man: Jetzt ist der Mensch tot. Vor zehn Sekunden war er es nicht, da wurde er reanimiert. Dabei hat sich der Mensch an sich gar nicht verändert. Man hat ja nur aufgehört ihn wiederzubeleben. Es kann auch passieren, dass ein Mensch zunächst erfolgreich reanimiert wird und das Herz wieder schlägt, aber die Pause lang genug war, um genug Schaden anzurichten, dass das Herz nicht mehr so richtig schlagen kann. Dann kann man sich im Ultraschall anschauen, wie das Herz noch so ein bisschen wackelt und zuckt, aber eben nicht pumpt. Es lebt, aber funktioniert nicht mehr. Etwas später macht es dann gar nichts mehr. Ist man erst dann tot? Oder früher oder später?
In der Notaufnahme kommen solche Situationen häufig vor. Nicht täglich, aber sie gehören zum Alltag. In dieser Viertelstunde passiert für mich und andere, die in der Notaufnahme arbeiten, nicht viel. Ein Patient kommt, wird reanimiert. Man überlegt, ob es Sinn ergibt, weiter zu reanimieren. Wenn nicht, hört man auf, geht aus dem Zimmer und vielleicht zurück zu seinem Computer oder zu einem anderen Patienten – es geht einfach weiter. Für den Patienten ist allerdings sehr viel passiert. Er ist gerade gestorben. Ein kleiner Schritt für mich, ein riesengroßer für ihn. Ich werde mich, wenn ich nach der Schicht gehe, sehr wahrscheinlich nicht mal an seinen Namen erinnern. Sein Leben ist aber heute zu Ende gegangen. Ein ganzes Menschenleben. Was er darin alles erlebt, gefühlt, getan, gesagt hat? Keine Ahnung. Ich habe halt nur seine letzten zehn Minuten mit ihm verbracht. Quantitativ gesehen verbindet mich mit ihm ungefähr so viel, wie mit einem Beamten im Bürgerbüro. Qualitativ gesehen, war ich dabei, als er den vielleicht größten Schritt seines Lebens getan hat – zu sterben. Und das finde ich so bizarr. Es fühlt sich verkehrt an, wenn das einzige, was ich mit einem Menschen teile, sein Übergang vom Leben zum Tod ist. Wenn ich sonst nichts weiß. Keinen Namen, keine Geschichte, einfach nix.
Im letzten Monat, etwa eine halbe Stunde nachdem ein Patient verstorben war, habe ich nochmal kurz ins Zimmer des Verstorbenen geguckt. Nachdem alle Leute aus dem Zimmer raus sind und woanders weiter arbeiten, ist es dort wieder etwas ruhiger. Das habe ich schon immer so gemacht, als ich im FSJ oder während meiner Praktika in der Klinik war. Einfach aus Interesse am Tod und um für mich selbst auch einen Abschluss zu finden. So ein kurzes: „Jo krass, der ist jetzt tatsächlich einfach tot.“ Manchmal braucht der Kopf eben ein bisschen, um zu verstehen, was er schon weiß. Die Menschen sehen kurz nachdem sie gestorben sind noch ziemlich genauso aus, wie kurz vor ihrem Tod. Erst nach einiger Zeit werden sie starr und die Hautfarbe ändert sich. Der gesetzte Todeszeitpunkt kommt mir dann oft sehr willkürlich vor und ich frage mich wieder: Was passiert zwischen Leben und Tod? Und weil ich an ewiges Leben glaube und daran, dass eines Tages alle auferstehen, frage ich mich, wie das dann funktionieren soll?
Manche glauben, dass die Seele beim Tod den Körper verlässt, oder dass die Seele unsterblich ist. Ich weiß nicht, wie ich mir das vorstellen soll. Insbesondere, wenn ich beim Sterben dabei war. Erst soll die Seele da gewesen sein. Dann gehe ich kurz eine halbe Stunde weg, komme wieder, schaue ins Zimmer und dann ist die Seele nicht mehr da? Irgendwie komisch. Sieht ja alles aus wie vorher. Oder sind die jetzt bei Gott? Wie kann das sein? Sie sind ja hier und liegen vor mir im Zimmer. Dann können sie ja nur teilweise bei Gott sein, oder eben nur ihre Seele, was auch immer das sein mag und wie auch immer das gehen soll. Das kommt mir so ein bisschen vor, wie ein Upload in eine himmlische Cloud oder so etwas, wo der Mensch seines Körpers und Geistes beraubt irgendwie gespeichert wird. Das finde ich merkwürdig. Daran glaube ich auch nicht.
Wenn ich Bibel lese, kommt es mir eher so vor, als würde es einen Ort geben, wo die Toten sind. Ganz – also nicht nur die Seelen. Ein Totenreich oder etwas in der Art. Dort sind sie dann wohl doch mehr lebendig als tot und warten, dass Jesus wiederkommt, Gericht hält und Gott dann alles neu schafft. Aber dann frage ich mich wieder, wenn ich ins Zimmer des Toten schaue: Ist er jetzt im Totenreich? Und wenn ja, wie? Man kann sich über diese Fragen abends bei einem Glas Wein in philosophischen Sphären unterhalten und diskutieren. Am Ende sagt dann womöglich jemand in demütiger Weisheit, die mich nicht zufrieden stellt: „Ach, das ist einfach jenseits unserer Vorstellung – Totenreich, Himmel, Unsterblichkeit – das übersteigt unseren Verstand.“ Wenn man dann im Zimmer des Toten steht, ist die Situation so greifbar und real, dass die philosophischen Sphären einfach realitätsfern und viel zu weit weg wirken. Praxisferne Theorie – so scheint es mir. Ich will nicht sagen, dass es unsinnig ist, etwas über Dinge zu sagen, die über das Leben und unseren Verstand hinausgehen. Aber immer, wenn ich Tote sehe, finde ich das komplett verwirrend, beinahe mystisch. Ich habe dann manchmal so ein Derealisationsgefühl, als wäre alles nicht ganz echt, irgendwie surreal. Ich vermute, dass ich mich noch einige Male im Leben in dieser Situation befinden werde. Das ist so als Arzt. Statistisch gesehen, werde ich auch noch einige tote Menschen sehen, die mir sehr nahe stehen, zum Beispiel Familienangehörige. Ob sich dann wohl etwas verändert in meiner Wahrnehmung? Wird man mit der Zeit routinierter in der Begegnung mit Toten? Oder wird es immer so skurril und mystisch bleiben? Was passiert mit uns zwischen Leben und Tod? Wo gehen wir hin und wie wird es da sein?
Was denkst du? Hast du schon mal Zeit mit jemandem verbracht, der tot ist? Teile gerne mit uns, wie du das erlebt hast.