Wie viele Freunde…?


Wenn ich über Freundschaft nachdenke, fühle ich mich manchmal so, als würde ich einem Blinden erklären, wie Farben aussehen. Nicht weil ich glaube, dass er nicht verstehen würde, was ich meine, sondern weil ich komplett überfordert wäre, die richtigen Worte zu finden. Freundschaft ist für mich eines der schwierigsten und komplexesten Themen. Warum? Weil es Menschen betrifft und die bekanntlich sehr kompliziert sein können. Treffen also zwei oder mehr Menschen aufeinander – nennen wir sie mal Freunde – kann es bisweilen sehr chaotisch werden.

Vor fast anderthalb Jahren habe ich schonmal einen Beitrag zum Thema Freundschaft geschrieben. Damals ging es vor allem um den Unterschied zwischen funktionalen (oder oberflächlichen) und tiefen Freundschaften. Ich kam zu der Erkenntnis, dass viele meiner Freundschaften auf einen bestimmten Lebensabschnitt beschränkt sind und es (leider) nur sehr wenige gibt, die eine Lebensphase überdauern oder das Potential haben, sogar das ganze Leben zu halten. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, diese besonderen Freundschaften in meinem Leben zu identifizieren und gezielt in sie zu investieren. Seitdem stelle ich mir immer wieder folgende Fragen: Wie viele Freunde brauche ich? Sind tiefe Freundschaften automatisch besser als oberflächliche? Und wie vielen Freundschaften kann ich überhaupt gerecht werden?

Natürlich kann ich auf diese Fragen keine allgemeingültigen Antworten finden. Wenn ich es könnte, hätte ich es schon längst getan. Stattdessen will ich eher versuchen, die Spannungsfelder aufzuzeigen, die diese Fragen thematisieren. Positionieren kannst du dich dann selbst.

Spannungsfeld 1: Wie viele Freunde brauche ich?

Hier erlebe ich oft eine Diskrepanz zwischen dem, was ich will und dem, was ich glaube, tun zu sollen. Ich bin eher jemand, der es genießt, viel Zeit mit sich alleine zu verbringen und den der soziale Kontakt (gerade mit mehreren Personen) eher mal anstrengt. Gleichzeitig habe ich – vor allem seit der Schulzeit – das Bild, dass ich möglichst viele Freunde haben sollte, damit es mir gut geht. Dahinter steckt meistens die Angst davor, etwas zu verpassen, auch bekannt als FOMO (fear of missing out). Leider gibt es noch keinen Impfstoff gegen Ängste, weshalb man andere Wege finden muss, damit umzugehen. Ich habe mir als Gegenmittel in den letzten Jahren immer wieder versucht zu sagen: “Da, wo du bist, ist es am besten.” Das ist eine Taktik um zu lernen, mit dem zufrieden zu sein, was ich habe. Mir hilft das – mal mehr, mal weniger – mit der FOMO fertig zu werden und mehr zu mir und meinen Bedürfnissen zu stehen.

Spannungsfeld 2: Sind tiefe Freundschaften automatisch besser als oberflächliche?

Puuuuh. Schwierige Frage. Naja, für die meisten wahrscheinlich nicht. Aber alleine die Tatsache, dass ich diese Frage stelle, impliziert ja schon, dass ich einen anderen Aspekt hervorheben möchte.

Auf den ersten Blick würde ich die Frage mit “ja” beantworten. Ich meine, wer wünscht sich keine tiefen Freundschaften, in denen man alles teilt? Gleichzeitig sollte man sich auch bewusst sein, dass tiefe Freundschaften deutlich mehr Kraft, Energie und Zeit kosten als oberflächliche. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, wie ich in meinem Alltag zehn tiefe Freundschaften pflegen soll.

Gerade weil “oberflächlich” häufig eine negative Konnotation, möchte ich das heute mal ein bisschen umdrehen. Ich glaube nicht, dass oberflächliche Freundschaften automatisch schlecht sind. Im Gegenteil, oftmals genieße ich es mit Leuten abhängen zu können und nicht über persönliche Sachen, sondern über Belangloses zu sprechen. Das kann sehr befreiend und entspannend sein. Deshalb lautet meine Antwort auf die Frage, dass tiefe und oberflächliche Freundschaften eine ausgewogene Mischung darstellen sollten. Was “ausgewogen” ist, liegt im Auge des Betrachters.

Spannungsfeld 3: Wie vielen Freundschaften kann ich überhaupt gerecht werden?

Während ich mich bei den ersten beiden Fragen ganz passabel über Wasser gehalten habe – wie ich finde – wird der Kahn jetzt langsam (aber sicher) kentern und dann vielleicht sogar untergehen. Doch genug Semannsmetaphorik. Diese Frage ist für mich persönlich die wichtigste von allen. Warum? Weil sie am meisten Auswirkungen auf mein Leben hat.

Wie in meinem damaligen Beitrag beschrieben, wünsche ich mir, dass meine Freundschaften möglichst ausgeglichen sind. Also, dass ich und mein Gegenüber optimalerweise ähnliche Erwartungen aneinander haben und diese auch gegenseitig mitteilen. Nur dann kann es gelingen, einer Freundschaft überhaupt gerecht zu werden. Alles andere ist sehr vage. Ich versuche immer wieder darauf zu achten, dass all meine Freundschaften in einem Gleichgewicht sind. Aber gelingt mir das? Höchstens ansatzweise. Deshalb hoffe ich, dass sich meine Freunde mein Versagen nicht zu sehr zu Herzen nehmen und dass es am Ende reicht, ein paar wenige, aber dafür wertvolle Freundschaften zu haben.


by spaghettihirn

Das Beitragsfoto kommt von Helena Lopes.

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